Ein Volk atmet auf

Zum zweiten Mal innerhalb von 30 Monaten bringen die Massen auf dem Tahrir-Platz in Kairo einen Präsidenten zu Fall. Millionen Ägypter feiern ausgelassen ihren Sieg. Das Wort "Armeeputsch" ist für sie tabu. Aus Kairo berichtet Markus Symank.

Revolutionshauptstadt Kairo, kurz nach Mitternacht in der Metro: Das Zugabteil hat sich in eine fahrende Partybude verwandelt. Junge Männer trommeln mit Fäusten rhythmisch auf die Metallwände, grölen, tanzen, blasen in Tröten und Trillerpfeifen. Zwei kleine Mädchen mit rot-weiss-schwarz bemalten Wangen klatschen begeistert im Takt. Ihre Mutter gibt ein langgezogenes Sarruda von sich, ein hohes Freudentrillern, wie es in Ägypten an Hochzeiten üblich ist.

An jeder Station steigen weitere Menschen in ausgelassener Stimmung ein. Männer, Frauen, Alte, Junge, Kinder mit Zuckerwatte, ein Greis am Krückstock. Zwei Wagemutige hängen sich aus Jux von außen an das überfüllte Abteil. Endstation: Tahrir-Platz, Geburtsort des ägyptischen Volksaufstandes, der soeben die zweite Revolution in nur zweieinhalb Jahren zur Welt gebracht hat.

Volk gegen Regime: 2:0

Der Tahrir ist in dieser Nacht der wohl lauteste Ort der Welt. Mit dem Lärm von Trommeln, Lautsprechern und Tausenden Sumaras, die ägyptische Version der Vuvuzela-Trompete, entlädt sich die angestaute Wut über den gestürzten Präsidenten in einer ohrenbetäubenden Kakophonie, übertönt sogar die Militärhubschrauber, die noch immer über der Hauptstadt kreisen. Feuerwerkskörper tauchen den Nachthimmel in immer neue Farben – war Ägypten nicht eben noch bankrott?

Jubel nach Bekanntwerden der Absetzung Mursis auf dem Tahrir-Platz in Kairo; Foto: Reuters
Reminiszenzen an die Revolution von 2011: Nach Bekanntwerden der Entmachtung des ägyptischen Präsidenten brach in Kairo Jubel aus. Mit Hupkonzerten und Feuerwerken zogen die Ägypter durch die Straßen der Hauptstadt und feierten am symbolträchtigen Tahrir-Platz ihren politischen Sieg über die Muslimbruderschaft.

​​Die Schlachtrufe der vergangenen Tage sind passé. Jetzt wird nur noch gebrüllt. Eine Atmosphäre wie nach dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft. Volk gegen Regime: 2:0.

"Der Aufstand gegen Husni Mubarak war groß. Aber das hier ist größer", sagt Ahmed, der mit einer Ägyptenflagge in der Hand auf einem Geländer am Rande des Platzes sitzt und das Spektakel in sich aufsaugt. In nur einem Jahr habe sich Mohammed Mursi unbeliebter gemacht als alle anderen Machthaber vor ihm, erklärt der Student, worauf seine Freunde in einen "Irhal, irhal"-Chorus (Hau' ab!) einstimmen. "Lauter!", lacht Ahmed: "Mursi hat Euch noch immer nicht gehört!"

Gesenkte Häupter

Der erste frei gewählte Präsident Ägyptens ist zu diesem Zeitpunkt längst entmachtet. Die Kaserne, in der er sich aufhält, von Soldaten und Panzern umstellt. Später wird ihn die Armeeführung im Verteidigungsministerium unter Hausarrest stellen.

Doch Mursi will sich nicht dem Unvermeidbaren fügen, akzeptiert seine Entmachtung nicht. "Ich bin der einzige legitime Präsident", teilt er seinen Anhängern über eine Audiobotschaft mit, nachdem Armeechef Abdel Fattah al-Sisi seinen Sturz im Staatsfernsehen verkündet hat. Mursis Zehntausende Anhänger, die im Osten Kairos tagelang ausharrten und gegen das Unvermeidliche anbeteten, sind da bereits auf ein kleines Grüppchen zusammengeschrumpft. Leise und mit gesenkten Köpfen machen sie sich auf den Heimweg.

Mit ihrem Blut wollten sie Mursi verteidigen, hatten sie gewarnt. Ihre Drohung machen sie nicht wahr – zumindest nicht in der Hauptstadt, zumindest nicht jetzt. Außerhalb Kairos kommt es in den Städten Alexandria, Miniya und Marsa Matruh zu Zusammenstößen mit insgesamt 14 Toten.

"Mursi hat uns die Luft abgeschnürt"

Die Bilder der Millionenmassen, die sich landesweit gegen das islamistische Projekt zur Wehr setzen, hat das Weltbild der Muslimbrüder erschüttert. Auf dem Tahrir-Platz ergießt sich noch Stunden nach dem Sturz Mursis Häme über die Islamisten.

Demonstrant küsst Soldaten am Tahrir-Platz in Kairo; Foto: AFP/Getty Images
Im Schulterschluss mit der Armee: Fragen zur Rolle des Militärs Armee kommen bei den Demonstranten auf dem Tahrir-Platz nicht gut an. Das Tabu-Wort lautet 'Putsch', schreibt Markus Symank.

​​Viele Demonstranten haben Plüschschafe mitgebracht. Die wolligen Vierbeiner sind unter Regierungsgegner ein beliebtes Symbol für die Muslimbrüder, die ihren Anführern angeblich alles gedankenlos nachblöken. Neben Spott ist aber auch eine große Erleichterung spürbar. "Endlich können wir wieder atmen", sagt eine junge Demonstrantin erleichtert. "Mursi hat uns die Luft abgeschnürt."

Es sind nicht nur die Sorgen um die kränkelnde Wirtschaft und die steigende Kriminalität, mit denen die Muslimbrüder die Mehrheit der Ägypter gegen sich aufbrachte. Es ist auch das von vielen als abgehoben und arrogant empfundene Auftreten Mursis und der Muslimbrüder, das die Menschen wütend machte. Dass Mursi seinem Volk in einer Rede mit erhobenem Zeigefinger drohte und seine Berater friedliche Demonstranten als Ungläubige beschimpften, verstieß gegen jahrhundertealte Werte der auf Harmonie bedachten ägyptischen Kultur.

Die Muslimbrüder, schütteln manche den Kopf, sprechen trotz ihrer Nähe zum Volk nicht deren Sprache. "Es fühlte sich an, als wäre unser Land von einer fremden Kolonialmacht besetzt worden", sagt ein älterer Demonstrant. Andere schimpfen, Mursi habe versucht, Ägypten die konservative Lebensweise der arabischen Golfstaaten überzustülpen.

Kritische Fragen unerwünscht

Viele Demonstranten zeigen sich erleichtert darüber, dass die Armee nun hart gegen die Muslimbrüder vorgeht, die Führer der Organisation verhaftete und mehrere islamistische TV-Sender abschaltete. Über die drohende Radikalisierung der Islamisten, die dieser Schritt nach sich ziehen könnte, will hier und heute niemand nachdenken.

Auch kritische Fragen zur Armee kommen bei den Demonstranten nicht gut an. Das Tabu-Wort am Tahrir lautet Putsch. "Die Muslimbrüder wollen der Welt weis machen, dass sie von der Armee beseitigt wurden. In Wahrheit haben wir, das Volk, sie besiegt", sagt ein Demonstrant. Auch die ausländischen Medien kritisiert er. Diese berichteten viel zu positiv über die Islamisten.

Ein Freund fällt ihm ins Wort. Es sei notwendig, dass die Armee die Macht schnell wieder abgebe, gibt er zu bedenken. Niemand wolle einen Rückfall in die Mubarak-Ära. "Tröööt!" bläst sein Gegenüber alle düsteren Gedanken mit seiner Sumara fort. Das Gespräch ist beendet. Bloß nicht die Stimmung vermiesen.

Mursis Sturz hat Millionen Ägypter für einige Stunden in den Himmel befördert. Jetzt warten auf viele wieder die Schwierigkeiten des Alltags, der Kampf ums tägliche Überleben. Doch die Nacht auf dem Tahrir-Platz wird nachhallen. In vielen hat sie erneut die Hoffnung auf Gerechtigkeit, Demokratie und eine bessere Zukunft geweckt. Der Kampf um die ägyptische Revolution ist noch nicht vorbei.

Markus Symank

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de