Türkische Wirtschaft zieht es nach Europa

Die türkische Wirtschaft ist der stärkste Motor für die Bemühungen am Bosporus, endlich als EU-Kandidat angenommen zu werden. Ein neues Büro in Berlin soll die Bewerbung vorantreiben.

Die Türkei hofft auf eine EU-Mitgliedschaft. Die Politiker des Landes drängen darauf, Ende 2004 einen Termin für Beitrittsverhandlungen genannt zu bekommen. Während die Europäer abwarten, leistet die Regierung in Ankara unerwartet mutige Reformen. Sie wird dabei besonders von der türkischen Wirtschaft unterstützt, die ihre Zukunft in der EU sieht. Vor kurzem hat die Türkische Industrie- und Handelskammer im Beisein des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Berlin eine Niederlassung eröffnet und eine Werbekampagne für einen türkischen EU-Beitritt gestartet.

TÜSIAD - das ist der "Verband der Industriellen und Unternehmer der Türkei". Er vertritt fast 60 Prozent der Privatwirtschaft und ist somit eine mächtige Organisation in dem wirtschaftlich aufstrebenden Land. Zudem gehört TÜSIAD zu den politischen Kräften in der Türkei, die sich schon seit langem für Reformen stark machen.

Präsenz zeigen

"Bis jetzt hat die Türkei eines versäumt: In den Ländern zu Hause sein, die für die Türkei wichtig sind, auch in diesen Ländern Informationen über sich selbst weitergeben." Sagt Mehpare Bozyigit, die Leiterin der neuen TÜSIAD-Vertretung in Berlin.

Nun will der Verband in Deutschland für den Beitritt der Türkei in die EU werben. Die Idee entstand kurz nach dem Kopenhagener EU-Gipfel Ende 2002. Auch der Eindruck des Verbandsvorsitzenden Tuncay Özilhan während seiner Deutschlandreise voriges Jahr, die Deutschen wüssten nichts über die Entwicklungen in der Türkei, dürfte zu der Entscheidung beigetragen haben.

Der wichtigste Handelspartner

Die Leiterin der neuen Vertretung unterstreicht die enorme Bedeutung Deutschlands für die Türkei: Deutschland sei der größte Handelspartner. Die Importe aus Deutschland machen 60, die Exporte nach Deutschland 30 Prozent des türkischen Außenhandels aus. Über 1000 deutsche Unternehmen haben in der Türkei zusammengerechnet etwa vier Milliarden US-Dollar investiert.

Tatsächlich entdecken in den letzten Jahren viele deutsche, aber auch andere europäische Unternehmen das Land am Bosporus als ein Billiglohnland, aus dem gute Absatzmöglichkeiten in die zentralasiatischen Länder und in den Nahen Osten bestehen. Neben Siemens haben vor allem Automobilhersteller wie DaimlerChrysler oder Opel große Produktionsanlagen in Anatolien aufgebaut.

Möglichst bald in die EU

Das Land selbst will aber nicht nur Europäer empfangen, sondern selber möglichst schnell in die EU beitreten. Mehpare Bozyigit sieht dafür reelle Chancen. Der Verband TÜSIAD will offensiv für einen türkischen Beitritt werben und die Vorteile einer türkischen Vollmitgliedschaft hervorheben, um das Land auch den Skeptikern in Europa schmackhaft zu machen.

Doch was Bozyigit als Vorteil sieht, ist gerade in Deutschland sehr umstritten: "Wir müssen davon ausgehen, dass Europa inzwischen sehr alt ist und dass Europa nicht in der Lage ist, sich mit den Geburtenraten selbst zu erneuern. Deswegen wird auch die Türkei gebraucht. Das ist eine junge Nation, die sozusagen auch für neues Blut in Europa sorgen wird."

Ob die Türkei allerdings bei den Problemen des deutschen Rentensystems Abhilfe leisten kann, ist fraglich. Dennoch kann Mehpare Bozyigit auf Unterstützung aus der Politik zählen. Zur Eröffnungsfeier kam der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Auch er sieht in Deutschland ein Schlüsselland für den angestrebten Beitritt seines Landes in die Europäische Union.

Cem Sey, © Deutsche Welle 2003