Hoffnung auf Kanzler Schröder

Nach der deutschen Oppositionsführerin Angela Merkel besuchte auch Bundeskanzler Gerhard Schröder die Türkei. Anders als Merkel steht er einem langfristig anvisierten türkischen EU-Beitritt positiv gegenüber.

Als die deutsche christlich-demokratische Oppositionsführerin Angela Merkel versuchte, den Türken anstelle des angestrebten EU-Beitritts eine "privilegierte Partnerschaft" schmackhaft zu machen, erhielt sie eine deutliche Abfuhr. "Das stand bis heute bei uns nicht zur Debatte", erklärte Regierungschef Recep Tayyip Erdogan bei Merkels Besuch in Ankara. Und betonte: "Wir denken gar nicht daran, das ist ausgeschlossen!"

Über eine solche Option könne man allenfalls später einmal nachdenken, verlautete aus Erdogans Umfeld. Dabei hat Merkel durchaus nachvollziehbare Argumente gegen einen türkischen EU-Beitritt. Sie meint, die Türkei mit ihren 70 Millionen Einwohnern und ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit von nur 23 Prozent des EU-Durchschnitts würde die Integrationskraft und die finanziellen Möglichkeiten der Europäischen Union (EU) sprengen.

Die Anfang Mai 2004 anstehende Ost-Erweiterung sei schwierig genug. Deshalb sollten die Türken draußen bleiben, aber für ihre Reformbemühungen mit einer besonders engen Partnerschaft mit der EU belohnt werden.

Faire Chance

Aus türkischer Sicht jedoch wäre dies allenfalls ein schwacher Trost. Das weiß auch Bundeskanzler Gerhard Schröder, der von vergangenem Sonntag bis Dienstag die Türkei besuchte. Anders als Merkel setzt sich die rot-grüne Bundesregierung nachdrücklich dafür ein, den Türken eine faire Chance einzuräumen.

Das betonte der Bundeskanzler auch nach seiner Ankunft im Land am Bosporus. Die Versprechen an die Türkei müssten eingehalten werden, sagte er und fügt hinzu: "Man muss die Türkei fair behandeln und fair heißt, dass man zum gegebenen Wort steht."

Die Bundesregierung hat, anders als konservative europäische Politiker, auch nie die islamische Prägung der türkischen Bevölkerung als Hindernis für einen EU-Beitritt thematisiert. Sie sieht darin vielmehr eine Chance für den Dialog der Kulturen und ein mögliches Beispiel für erfolgreiche Demokratisierung innerhalb der islamischen Welt.

Zwar könne es faktisch noch etliche Jahre bis zu einem türkischen Beitritt dauern. Aber wenn es Ankara tatsächlich gelänge, die politischen Kriterien zu erfüllen, meint Schröder, dann müsse auch die EU ihr Versprechen einhalten und Beitrittsverhandlungen mit Ankara eröffnen.

"Seit dem Assoziierungsvertrag von 1963, also vor 40 Jahren, ist der Türkei immer wieder - auch von allen deutschen Bundesregierungen - gesagt worden, dass der Annäherungsprozess die Perspektive eines Beitritts zur Europäischen Union hat", so der Bundeskanzler. "Die Erwartungen, die damit geweckt worden sind, können und dürfen nicht enttäuscht werden."

Fürsprecher Deutschland

Die Türkei wiederum betrachtet Deutschland traditionell als Unterstützer für einen EU-Beitritt. Zum einen, weil in Deutschland heute in Folge der Gastarbeiter-Anwerbung seit den 60er Jahren rund 2,5 Millionen Türken leben. Und zum anderen, weil Deutschland der mit Abstand wichtigste Handelspartner der Türkei ist.

Hinzu kommen die historisch gewachsenen Beziehungen beider Länder: Im Ersten Weltkrieg verband sie eine Waffenbruderschaft, und während der Nazi-Diktatur gewährte Ankara zahlreichen verfolgten deutschen Wissenschaftlern Asyl. Sie halfen dort beim Aufbau eines modernen Universitätssystems.

Regierungschef Erdogan wird es bei Schröders Visite aber gar nicht nötig haben, mahnend an die gemeinsame Vergangenheit zu erinnern. Er hat inzwischen viel bessere Argumente, um den deutschen Kanzler davon zu überzeugen, sich Ende 2004 für den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit Ankara einzusetzen.

Denn ausgerechnet der Reform-Islamist Erdogan hat in den vergangenen Monaten Reformen - wie die faktische Abschaffung der Todesstrafe - auf den Weg gebracht, an denen alle westlich orientierten Regierungschefs in Ankara zuvor gescheitert waren.

Menschenrechtsorganisationen loben Fortschritte

Sogar die Menschenrechtsorganisation Amnesty International spricht inzwischen von deutlichen Fortschritten bei der Menschenrechtslage, wenngleich es bei der Umsetzung der Reformen noch hapere. Und schließlich kann Erdogan noch mit einem weiteren Pfund wuchern: Er hat sein ganzes politisches Gewicht in die Waagschale geworfen, um die von der EU verlangte Lösung in der Zypern-Frage zu erleichtern. Die Mittelmeerinsel ist seit 1974 in einen türkischen und griechischen Teil geteilt. Und er wird Schröder deutlich machen, dass er auch dafür belohnt werden will.

Einen EU-Beitritt wollen nicht nur praktisch alle Politiker im Parlament von Ankara - auch 75 Prozent der Bevölkerung sind dafür. Und das bereits seit einiger Zeit. Die Türkei war sogar schon vor der Republiksgründung durch Kemal Atatürk 1923 nach Europa orientiert - und seit mindestens vier Jahrzehnten ist die EU-Mitgliedschaft das außenpolitische Hauptanliegen Ankaras.

Man erhofft sich davon einen bedeutenden Fortschritt bei der Modernisierung des Landes und einen festen Platz im zusammenwachsenden Europa. Ein Beitritt zur EU ist für Ankara nicht nur wichtig, weil er handfeste wirtschaftliche Vorteile bringt. Er ist auch eine Frage des nationalen Prestiges.

Rainer Sollich

© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2004