Stolpersteine auf dem Weg zur Demokratie

Zwar zeigt sich die Opposition erleichtert über den Sturz des Diktators Ben Ali. Jedoch benötigt sie Zeit, sich neu zu konstituieren und für Neuwahlen aufzustellen. Eine Reportage von Alfred Hackensberger aus Tunis

Tunesierin während einer Demonstration gegen Ben Ali; Foto: AP
"Die Zeit der Unterdrückung ist vorbei" - so das Credo der Oppositionsbewegung, die nun nach einem politischen Neuanfang sucht.

​​Im Büro der "Bewegung für Erneuerung" im Zentrum von Tunis herrscht ein Reges Kommen und Gehen.

Unter den Freunden und Mitgliedern der tunesischen Oppositionspartei ist die Stimmung ausgelassen – trotz der nächtlichen Ausgangssperre, den Plünderungen, Brandstiftungen und andauernden Schusswechseln in der Hauptstadt.

Nach dem Abtritt und der Flucht von Zine al-Abidine Ben Ali nach Saudi-Arabien überwiegt die Hoffnung auf eine bessere, demokratische Zukunft für ihr Heimatland. "Eine 24-jährige repressive Ära ist zu Ende gegangen", meint Ahmed Brahim, dessen Oppositionspartei mit drei Abgeordneten im Parlament vertreten ist. "Wir haben das zwar immer erhofft, aber wirklich daran geglaubt, dass es dies möglich werden könnte, hatten wir nie."

Ein Gefühl, das er sich mit den meisten Tunesiern teilen dürfte. Zum ersten Mal seit Präsident Ben Ali 1987 das Amt von seinem kranken Vorgänger, Habib Bourguiba, übernahm, können die Menschen frei ihre Meinung sagen und sich ganz nach ihrer Façon politisch organisieren. "Die Zeit der Unterdrückung ist vorbei", sagt Ahmed Brahim sichtlich zufrieden. "Jetzt muss man nach vorne blicken".

Marodierende Gangs und Provokateure

Doch dazu sind wohl die langjährigen Gefolgsleute des Ex-Präsidenten Ben Ali noch nicht bereit. Als "agents provovateurs" schießen sie aus fahrenden Autos auf Menschen und Gebäude der Opposition, versuchen Fabriken, Wohnhäuser auszurauben und anzuzünden.

"Das sind bewaffnete Banden, zu denen Polizisten und Geheimagenten gehören", meint Tarik Chaabouni, einer der Parlamentsabgeordneten der "Bewegung für Erneuerung".

Tunesier demonstrieren gegen den Ben-Ali-Clan in der Haupstadt Tunis; Foto: AP
"Raus mit der RCD! Raus mit der Partei der Diktatur!" - auch nach dem Sturz Ben Alis ist der Widerstand gegen das politische Umfeld des früheren Präsidenten ungebrochen.

​​Ihr Ziel sei es, den Übergang vom alten Regime zu einer demokratischen Gesellschaft zu stören und möglichst viel Chaos anzurichten. "Die Strategie, die dahinter steckt: Man will der tunesischen Öffentlichkeit zeigen, wie sicher und gut man doch – im Vergleich zu den künftigen Politikern – unter Ben Ali gelebt hat."

Aber die Menschen lassen sich nicht täuschen. In Tunis hat die Bevölkerung Milizen aufgestellt, die permanent ihre Wohnviertel bewachen. Mit Stöcken und langen Holzpfählen bewachen kleine Gruppen ihr Hab und Gut, meist vor errichteten Barrikaden. Diese Milizen werden von der Armee während der Ausgangssperre auf den Straßen gebilligt.

"Die Tunesier lassen sich nicht mehr zurückdrängen", erklärt Ahmed Brahim, der Präsident der Oppositionspartei, die an den Protesten, die nach der versuchten Selbstverbrennung eines 26-jährigen arbeitslosen Akademikers am 17. Dezember begonnen hatten, aktiv beteiligt war und diese mitorganisierten.

Brahim würde am liebsten ein nationales Komitee errichten, das sich aus allen Oppositionsparteien, NGOs, Gewerkschaften und soziale Organisationen zusammensetzt und gemeinsam das Wahlgesetz ändert sowie Neuwahlen vorbereitet. "Nur so ist ein vernünftiger Übergang möglich", behauptet Ahmed Brahim in seinem Büro in der Avenue de la Liberté.

Schwieriger demokratischer Wandel

Diesen Übergang übernimmt nun aber eine nationale Einheitsregierung. Die Verhandlungen dazu übernahm der am vergangenen Samstag als neuer Präsident vereidigte Fouad Mebazaa. Das Oberste Gericht Tunesiens hatte entschieden, dass Artikel 57 der Verfassung anzuwenden sei und somit der Sprecher des Parlaments die Amtsnachfolge des geflohenen Präsidenten Ben Ali antreten müsse.

Laut Verfassung müssten innerhalb von 45 bis 60 Tagen Präsidentschaftsneuwahlen stattfinden. "Wenn man das Ganze wirklich ernst nimmt", sagt Samir Taeibh, Juraprofessor an der Universität von Tunis, "ist das in diesem Zeitraum nicht zu schaffen. Man braucht hierfür mindestens sechs Monate."

Fouad Mebazaa; Foto: dapd
Schwieriges politisches Erbe: Der bisherige Parlamentspräsident Fouad Mebazaa soll die Geschicke Tunesiens bis zu den vorgezogenen Wahlen lenken.

​​Es müsse das Wahlrecht geändert und den Parteien genügend Zeit gegeben werden, Kandidaten zu finden, um sich der Öffentlichkeit angemessen präsentieren zu können. Bisher muss jede Partei, die einen Kandidaten stellt, eine Liste mit Unterschriften von mindestens 30 wohl gesonnenen Abgeordneten vorlegen, um an der Wahl teilnehmen zu können.

"Bei den Mehrheitsverhältnissen im Parlament kann das für jede der Oppositionsparteien ein Stolperstein sein", sagt Samir Taeibh und verweist auf die 152 Sitze, die die bisher regierende Partei von Ben Ali (RCD) von insgesamt 189 innehat.

Der Juraprofessor hat wenig Vertrauen, dass der neue 77-jährige Präsident Fouad Mebazaa und auch sein Premierminister Mohammed Ghannouchi mit vollem Einsatz den Demokratisierungsprozess vorantreiben.

Schließlich waren beide treue Gefolgsleute von Ben Ali und gelten auch heute, nach seinem Sturz, als Galionsfiguren des alten, verhassten Regimes. Ihre Namen stehen für geheimdienstliche Überwachung, Korruption, soziale Benachteiligung und für die Verschwendungssucht der regierenden Elite.

Der "Nexus" der tunesischen Korruption

In den kürzlich von Wikileaks veröffentlichten Depeschen der US-Botschaft in Tunis vom Juni 2009 heißt es: "Ob Geld, Dienstleistungen, Grundstücke, Häuser – die gesamte Familie Ben Ali bekommt, was sie will." Sie sei der "Nexus" der tunesischen Korruption.

"Den größten Zorn", so schrieb US-Botschafter Robert F. Godec, "rufen Ben Alis Frau, Leila Ben Ali, und ihre erweiterte Familie, die Trabelsis, hervor". Über den Mangel an Bildung, geringen sozialen Status und übermäßigen Konsum der Präsidentengattin, die vormals als Friseuse arbeitete, würden ständig Witze gemacht werden.

Leila Ben Ali; Foto: dpa
Bereichert auf Kosten des Volkes: Die 53-jährige Leila Ben Ali, geborene Trabelsi, setzte sich gemeinsam mit ihrem Mann mit 1,5 Tonnen Gold im Gepäck, einem Wert von rund 49 Millionen Euro, nach Saudi-Arabien ab.

​​Kein Wunder, dass Demonstranten – zum Entsetzen deutscher und britischer Urlauber im beliebten Ferienort Hammamet die Villa eines Angehörigen der Trabelsi-Familie plünderten. Auf Facebook hatten sich einige Hundert, meist junge Leute, verabredet: "Heute Hammamet: Mit unserem Blut, mit unserer Seele".

Die Polizei und Küstenwache schauten tatenlos zu, als die Villa geplündert und verwüstet wurde. Auch in anderen Städten wurden Firmen und Eigentum der Familie Ben Alis angegriffen. In Tunis brannte die Filiale der Zeitouna Bank, die der Schwiegersohn des Diktators gegründet hatte. In Flammen gingen auch Autos der Marken Kia, Fiat und Porsche auf, die Mitglieder der Präsidentenfamilie in Tunesien vertrieben.

Eine Revolution, die von heute auf morgen alles auf den Kopf stellt, lehnt Mondher Thabet strikt ab. Der Präsident der sozialiberalen Partei der Opposition möchte "Schritt für Schritt einen Dialog aller demokratischen Kräfte", um Verfassungs- und Gesetzesreformen durchzuführen – ein Prozess, in dem seiner Meinung nach, auch die Islamisten zu integrieren seien.

Die Rolle der Islamisten

Deren Relevanz sei bisher nicht berücksichtigt worden. Bei den Protesten sind Tunesiens Islamisten jedoch als eigenständige Akteure nicht in Erscheinung getreten. Bis auf einen Anschlag, 2002 auf eine Synagoge der Urlaubsinsel Djerba, bei dem 21 Menschen starben, blieb Tunesien von radikalen Dschihadisten unberührt.

Während der Proteste meldete sich zwar die Organisation Al-Qaida im Maghreb zu Wort, beteuerte ihre Sympathie für Demonstranten und forderte sie gleichzeitig auf, nach dem Umsturz die Scharia in Tunesien einzuführen. Doch damit wollen die demonstrierenden Menschen auf den Straßen nichts zu tun haben. Sie forderten freie Meinungsäußerung und die Durchführung freier, fairer Wahlen und kein Ende des säkularen tunesischen Staatswesens.

Nach 22 Jahren im Exil in London will Rached Ghannouchi nach Tunesien zurückkehren, wie er erklärte. Der 69-jährige ist der Führer der Islamisten-Partei "Ennahda", die in Tunesien seit langem verboten ist. Damals, in den 1990er Jahren, wurden Hunderte Mitglieder vor Gericht gestellt, viele gingen ins Exil.

Erst letzten Monat wurden sieben Männer zu Haftstrafen verurteilt, weil sei die Organisation angeblich neu beleben wollten. Rached Ghannouchi sagte, er stehe mit Oppositionspolitikern in Tunesien in Kontakt und sei bereit, ein Teil der Nationalen Einheitsregierung zu werden. "Allerdings ist dies alles schwierig", so Ghannouchi, "nach all den Jahren der Unterdrückung sind unsereVerbündete desorganisiert."

Alfred Hackensberger

© Qantara.de 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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