Unkalkulierbare militärische Abenteuer

Mit dem Einmarsch in Syrien will Ankara IS-Terroristen vom eigenen Territorium fernhalten und kurdische Gebietsgewinne verhindern. Gegen diese Doppelstrategie wird in der Türkei neben Zustimmung auch Kritik laut. Von Andreas Gorzewski

Von Andreas Gorzewski

Der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu ließ an seiner patriotischen Ausrichtung keinen Zweifel. "Gegen die Terrororganisation IS zu kämpfen, die unser Land bedroht, ist unser aller Aufgabe", verbreitete der Vorsitzende der Mitte-Links-Partei CHP über Twitter. Als türkische Panzer am Mittwoch über die Grenze nach Nordsyrien vorrückten, um Kämpfer des "Islamischen Staates" (IS) aus der Grenzstadt Dscharabulus zu vertreiben, kam auch von den Oppositionsparteien viel Zustimmung. Die nationalistische Partei MHP wünschte den Soldaten "mit unseren Herzen und unseren Gebeten" viel Erfolg. Nach dem mutmaßlichen IS-Anschlag auf eine kurdische Hochzeitsfeier in der Südosttürkei mit 54 Toten schien die Zeit reif, eigene Truppen in das Bürgerkriegsland zu entsenden.

Allerdings hielt der patriotische Schulterschluss nicht lange. So stichelte die stellvertretende CHP-Vorsitzende Selin Sayek Böke, dass es die Regierungspartei AKP mit dem Kampf gegen den IS nicht wirklich Ernst meine. "Wie schade, dass die AKP anstelle eines allumfassenden Kampfes gegen den IS zu denen gehört, die die Augen vor dem Anwachsen dieses Monsters verschlossen haben", schimpfte Böke. Die Regierung tue im Inland viel zu wenig gegen die Terrorzellen. Es reiche nicht, Soldaten über die Grenze zu senden, während der IS Picknicks im Zentrum von Istanbul abhalte.

Bei dem Vorstoß auf Dscharabulus ging es jedoch von Anfang an nicht nur um IS-Kämpfer, die das NATO-Land Türkei bedrohen. Die Regierung in Ankara will unbedingt verhindern, dass die Kurden ein zusammenhängendes Gebiet an der türkischen Südgrenze kontrollieren. Seit 2015 sind die kurdisch kontrollierten Gebiete in Nordost- und Nordwestsyrien enorm gewachsen. Allerdings gilt die dortige Kurdenpartei PYD als Ableger der verbotenen türkischen Kurdenorganisation PKK. Aus Sicht von Ankara ist die PKK eine mindestens ebenso bedrohliche Terrorgruppe wie der IS. In dem seit Monaten tobenden Krieg zwischen PKK und türkischer Armee sind hunderte Menschen getötet worden. Auch der verheerende Anschlag auf eine Polizeistation in Cizre am Freitag wurde umgehend der PKK angelastet.

Ausstrahlen auf türkische Kurden befürchtet

Erdogan addresses a mass rally of supporters in Gaziantep on 28 August 2016 (photo: picture-alliance/dpa/S. Suna)
Erdoğans gefährliche Doppelstrategie: Die türkische Bodenoffensive im Norden Syriens richtet sich nach den Worten des türkischen Präsidenten gleichermaßen gegen die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) und gegen kurdische Kämpfer. Die Türkei werde mit "derselben Entschlossenheit" gegen die IS-Dschihadisten und gegen syrisch-kurdische Milizen kämpfen, sagte der türkische Staatschef am Sonntag bei einer Rede in Gaziantep im Südosten der Türkei.

Eine zusammenhängendes kurdisches Gebiet in Nordsyrien würde der Türkei einen direkten Zugang nach Syrien versperren, der PKK eine riesige Rückzugsbasis bieten und Unabhängigkeitsbestrebungen türkischer Kurden anstacheln, so die Befürchtung in Ankara. Deshalb hatten türkische Regierungsvertreter an der doppelten Stoßrichtung der Armeeoffensive - gegen den IS und gegen PKK-nahe Kurden - keinen Zweifel gelassen.

Gegen die Vermischung der beiden strategischen Ziele protestierte die prokurdische, türkische Partei HDP: "Die neue Syrien-Politik der Regierung ist so falsch wie die alte." In Dscharablus werde anstelle des IS nur Raum für eine andere "Bande" geschaffen, erklärte die HDP. Der Einmarsch diene weder den Menschen in der Türkei noch denen in Syrien.

Die HDP-Abgeordneten prangerten außerdem an, dass der Befehl zum Einmarsch in den Parlamentsferien erfolgte. Die Regierung habe das Land in einen Krieg verwickelt, ohne die Volksvertreter zu befragen. Darüber hinaus müsse Ankara ihre "antikurdische Position in Syrien" sofort revidieren, forderte die Oppositionspartei.

Türkischer Panzer an der Grenze zu Syrien; Foto: Getty Images/AFP/B. Kilic
Drohendes militärisches Fiasko: "Falls die Türkei ihren Operationsradius ausweitet und den richtigen Zeitpunkt für einen Rückzug verpasst, dann könnte Syrien für die Türkei zum Vietnam werden", warnt Yusuf Kanli von der englischsprachigen "Hürriyet Daily News".

Nordirak als mögliches Vorbild

Scharfe Worte von der prokurdischen HDP, die von Regierungsvertretern immer wieder der Sympathie mit der PKK bezichtigt wird, waren zu erwarten. Doch auch Zeitungskommentatoren sehen die Folgen des Einmarsches für das Kurdenthema kritisch. "Hürriyet"-Journalist Mehmet Yilmaz erinnerte daran, dass die Türkei früher auch gegen eine unabhängige kurdische Regionalregierung im Nordirak gewesen sei. Doch nun verstehe man sich bestens mit den nordirakischen Kurden. Der dortige Kurdenführer Massud Barsani sei am selben Tag, als die Panzer nach Syrien rollten, in Ankara wie ein Staatsmann empfangen worden. Auch mit den syrischen Kurden sollte die Regierung daher das Gespräch suchen. "Die dort lebenden zwei Millionen Kurden sind nicht unsere Feinde", schrieb Yilmaz.

Andere politische Analysten sorgen sich darum, dass der Einmarsch zum unkalkulierbaren militärischen Abenteuer werden könnte. Yusuf Kanli von der englischsprachigen "Hürriyet Daily News" fürchtet, dass sich die Armee immer tiefer in den komplizierten Krieg im Nachbarland verstricken könnte, so wie einst die US-Armee im verlustreichen Vietnamkrieg. "Falls die Türkei ihren Operationsradius ausweitet und den richtigen Zeitpunkt für einen Rückzug verpasst, dann könnte Syrien für die Türkei zum Vietnam werden."

Andreas Gorzewski

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