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Tahar Ben Jelloun, der französischste aller marokkanischen Autoren, erzählt über seinen neuen Roman "Partir", die Immigration vor den Toren der EU und über verzogene, europäische Kinder. Prune Antoine hat ihn in Paris getroffen.

Tahar Ben Jelloun, Foto: AP
Trotz seines kritischen Verhältnisses zum marokkanischen Staat glaubt Tahar Ben Jelloun, dass Mohammed VI einen bemerkenswerten Bruch mit dem Werk seines Vaters Hassan II vollzogen habe

​​"Partir" – "Aufbrechen": Der Titel von Tahar Ben Jellouns Werk, dessen Autor seit einigen Jahrzehnten zwischen Tanger und Paris lebt, beschwört die Melancholie, das Warten und ein Anderswo, das zwangsläufig besser sein muss.

Die illegale Einwanderung ist der Leitfaden von Ben Jellouns neuem Werk und dient als Vorwand zu einem "langsamen Abstieg in die Hölle" seines Helden Azel, einem marokkanischen Exilanten in Barcelona. Der Tod afrikanischer "Clandestinos" in den spanischen Stacheldrähten von Ceuta und Mellila war letzten September in den Medien sehr präsent.

Eine franko-orientalische Biographie

Geboren in Fes 1944, studiert Ben Jelloun Französisch, wird Philosophieprofessor in Tetuan, und verlässt anschließend Marokko, um in die französische Hauptstadt zu ziehen und dort 1971 seinen Doktor in Psychologie zu machen.

"Ich bin nicht dafür ausgebildet worden, in den Gymnasien die Arabisierung der Philosophie und die islamischen Lehre anstelle der universalistischen zu unterrichten. Deshalb bin ich gegangen", so Ben Jelloun. Trotzdem fühle er sich nicht wie ein Exilautor. Auch wenn er schwierige Zeiten durchgemacht habe, hätte er doch niemals das Gefühl gehabt, es sei unmöglich zurückzukehren.

Im Post-68er Paris fühlt sich Ben Jelloun wohl und fängt an, regelmäßig in der Bücherrubrik von Le Monde zu schreiben. 1973 veröffentlicht er seinen ersten Roman "Harrouda". "Ich bin kein arabischer Autor, da ich auf Französisch schreibe", sagt der 62jährige. "Für mich ist es eine Freude, mich in einer Fremdsprache, die ich beherrsche, auszudrücken. Selbst wenn meine Phantasie von der orientalischen Zivilisation geprägt bleibt."

Gespaltenes Verhältnis zu Marokko

1956 wird Ben Jelloun, noch Student, angeklagt, bei den Aufständen in Casablanca beteiligt gewesen zu sein und für 18 Monate in ein Erziehungslager der marokkanischen Armee geschickt. Seitdem hat der Autor von "La Nuit sacrée" ein äußerst ambivalentes Verhältnis zu seinem Land.

"Sagen wir, ich verspüre eine 'wachsame' Liebe für Marokko. Ich bleibe luzide und kritisch, was ja das Wesen eines Schriftstellers ist. Aber es lässt sich nicht leugnen, dass es dem Land viel besser geht als noch vor zehn Jahren."

Die Journalisten könnten daher leicht kritisieren und behaupten, dass die Fortschritte nicht ausreichten, dennoch habe Mohammed VI einen bemerkenswerten Bruch mit dem Werk seines Vaters Hassan II vollzogen, meint Ben Jelloun.

"Es ist eine Aufgabe, die noch kein arabischer Staatschef in Angriff genommen hat: Sein Volk über die Jahre der Unterdrückung und der Ungerechtigkeiten Zeugnis ablegen zu lassen, um anschließend einen Strich unter diese Vergangenheit ziehen zu können."

Dies ist zwar eine positive Entwicklung, die jedoch nicht den Drang junger Marokkaner, zu fliehen, verschleiern kann. In den letzten 15 Jahren seien immer mehr junge Marokkaner, die sich trotz ihres Studiums ohne Arbeit wieder fanden, nach Europa gegangen, erzählt der Schriftsteller: "Das wurde schon zu einer regelrechten Obsession: Was sie in Marokko nicht schafften – in Europa wird es dann schon klappen."

Ja zur Türkei und zu Marokko

Brüssel wurde daran erinnert, wie dringend es ist, eine Lösung für die Immigration zu finden. Doch Ben Jelloun bedauert, dass eine echte EU-Politik in dieser Hinsicht scheinbar nicht anders funktioniere als durch Unterdrückung und Ausschluss. Ihm zufolge gehen manche europäischen Länder mit der Einwandererfrage besser um als andere.

"Schweden zeigt zum Beispiel eine positive Haltung. Vor allem deshalb, weil es keine historischen Verbindungen zu afrikanischen Ländern hat", so Ben Jelloun, der regelmäßig für La Repubblicca oder die katalanische Zeitung La Vanguardia arbeitet.

Für ihn ist Europa eine große Chance. Aber seine Bürger seien sich nicht im Klaren darüber, wie glücklich sie sein können, in Nationen zu leben, wo Frieden herrsche, wo es Sicherheit und Wohlstand gebe, sagt er:

"Das sind verzogene Kinder, die ihren Vorfahren danken sollten, die gelitten haben, um ihnen diese Einheit zu bieten, die auf Freiheit, Demokratie und Respekt gegenüber dem Individuum basiert."

Was die Erweiterung der EU betrifft glaubt Ben Jelloun, falls die östlichen Länder zu Europa gehören, auch die Türkei und Marokko aufgenommen werden müssten. Marokko habe ein Recht, als Teil Europas zu gelten. Es pflege Beziehungen zum Kontinent und teile mit ihm eine Sprache, so Ben Jelloun.

"Wäre Algerien nicht unabhängig geworden, wäre es zwangsläufig heute europäisch. Und Ceuta und Melilla, die zwei spanischen Enklaven auf marokkanischem Gebiet, sind eindeutig europäisch, also warum nicht auch Marokko?"

Wenn Ben Jelloun auch nicht so weit geht, einen Beitritt zu fordern, so stellt er sich doch vor, dass diese mediterrane Öffnung "das Problem der illegalen Einwanderung regeln und den Islamismus und Fanatismus dadurch an ihrer Wurzel bekämpfen" werde.

Prune Antoine

​​© Café Babel 2006

Tahar Ben Jelloun's Roman "Partir" erscheint im September 2006 in deutscher Übersetzung im Berlin Verlag

Qantara.de

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