Gescheiterte und frustierte Existenzen

Prügel, Verzweiflung, Unmenschlichkeit: Der neue Roman von Tahar Ben Jelloun schildert aus der Perspektive einer jungen Frau das harte und erschreckende Leben der Migranten in den französischen Vororten. Georg Patzer hat es gelesen.

Tahar Ben Jelloun; Foto: AP
Seitenweise Fragen über Fragen, zornige Angriffe, politische Schlagworte: Der Autor Tahar Ben Jelloun lässt die Protagonistin seines neuen Romans in einem wütenden Wortschwall erzählen.

​​Sie ist eine Außenseiterin. Da kann sie machen, was sie will. Für ihre Mutter, für ihren Schwager ist Nadia eine Abtrünnige, die ihr Volk, ihre Religion verrät. Das Kopftuch will sie nicht tragen, einen Araber will sie nicht heiraten, und dann studiert sie auch noch. Und für die Franzosen ist und bleibt sie eine Afrikanerin, eine Araberin, eine aus den Vorstädten.

Aber das ist für so viele normal. Ganze Familien fallen auseinander im Zusammenprall der Kulturen, Menschen zerbrechen.

Nadias Schwester wird mit sechzehn Jahren verheiratet, an Kader, der ein richtiger Bilderbucharaber ist. Als das Betttuch nach der Hochzeitsnacht voll Blut ist, ist er stolz: "Sie weinte und klagte über Bauchschmerzen. Die Blutungen hatten lange angedauert. Je mehr Blut er sah, desto selbstzufriedener wurde Kader. Er hielt es für einen Beweis seiner Männlichkeit."

Als Nadia dreizehn ist, wird ihnen das Haus weggenommen, das sie sich selbst gebaut haben: "Ein weißes Haus mit ungleichförmigen Mauern, wie die von den Reisebüros angepriesenen Gebäude auf dem Peloponnes. Ein Haus mit siebzehn Fenstern, zwei Türen, einer Terrasse, mehreren Veranden."

Prügelnde Väter, respektlose Kinder

Der kommunistische Bürgermeister, der den Abriss durchsetzt, hat in Algerien gegen die Front de Libération Nationale gekämpft. So ist das Leben in Frankreich für die Beurs, die "Araber", die mit diesem Slangwort belegt werden.

Vater Bachir prügelt seine fünf Kinder, die Behörden verbieten es ihm. Er versteht die Welt nicht mehr: "In seinem Heimatland taten das alle." Aber in Frankreich ist es verboten. Und nun haben die Kinder keinen Respekt mehr und nehmen Drogen. Die Familie Gharib hatte zwei Söhne, einer saß im Gefängnis, der andere arbeitete für die Mafia.

Es gibt aber auch andere Lebensläufe: Nadias Vetter war Kleinkrimineller, rauchte Haschisch und traf dann eine andere Bande:

"Ihr Geschäft war die Verbreitung des Islam in unserem Vorort. Nourredine fiel ihnen in den Schoß wie ein reifer Apfel. Er ließ sich einen Bart wachsen, wollte zu Hause eine neue Lebensart durchsetzen: Seine Mutter und die drei Schwestern sollten das Kopftuch tragen; die fünf täglichen Gebete sollten alle zusammen verrichten; vor allem sollte niemand mehr Essen zu sich nehmen, das von dem Geld seines Vaters gekauft wurde, denn der führte eine Kneipe mit Alkoholausschank."

Ein hastiger, atemloser Bericht

Viele solcher kleinen, normalen Geschichten erzählt der marokkanisch-französische Autor Tahar Ben Jelloun in seinem Buch "Die Früchte der Wut".

In einem sehr hastigen Bericht, atemlos aneinandergereiht, lässt er Nadia all diese Menschen schildern, ihre Lebensumstände, ihre Verrenkungen, die sie unternehmen müssen, um in einer doppelt fremden Welt überleben zu können.

Ständig stoßen sie an Mauern, die traditionellen ihrer Eltern, die modernen ihrer Umwelt. Ganz verschieden sind die Reaktionen: Als Naima es schafft, in der Werbung Karriere zu machen, bezeichnet ihr Vater sie als Hure und erklärt sie für tot.

Als Yamina, Kbira und Rosa von ihrem Vater in den Ferien in sein Heimatdorf mitgenommen werden, er ihre Pässe verbrennt und sie seinem Bruder anvertraut, der sie schlägt und einsperrt, schlitzt sich Kbira die Adern auf und verblutet.

Ganz normale, schreckliche Geschichten

Es sind schreckliche Geschichten, die in diesem Vorort, das Ben Jelloun "Resteville" nennt, passieren, ganz normale schreckliche Geschichten von Vorurteilen und harten Erziehungsmethoden, von politischer Unfähigkeit und alltäglicher Unmenschlichkeit.

Leider hat Tahar ben Jelloun daraus keinen Roman gemacht, sondern eine wütende, sich steigernde, hilflose, oft politisch agitierende Suada einer ebenso hilflosen Frau, die anscheinend erst einmal ihren Frust loswerden will.

So sympathisch das auch ist, so ermüdend ist es zu lesen. Seitenweise Fragen über Fragen, zornige Angriffe, politische Schlagworte: Damit ist nun wirklich niemandem geholfen, und spätestens nach der Hälfte des nur 120 Seiten starken Buchs legt man es überrollt und ermattet zur Seite.

Georg Patzer

© Qantara.de 2007

Tahar Ben Jelloun: Die Früchte der Wut. Roman. Übersetzt von Christiane Kayser. Berlin Taschenbuch, 120 S., 7,50 Euro

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