Die Türkei vollbringt eine Großtat - helft ihr!

Ohne viel Tamtam nimmt die Türkei eineinhalb Millionen syrischer Flüchtlinge auf. Die Hilfe der Europäer ist beschämend unscheinbar. EU und Nato lassen einen Verbündeten im Stich. Ein Kommentar von Stefan Kornelius

Von Stefan Kornelius

Ohne viel öffentliches Tamtam vollbringt die Türkei zurzeit eine humanitäre und eine politische Großtat. Anderthalb Millionen syrische Flüchtlinge haben die Grenze überquert, sie leben in Lagern oder schlagen sich durchs Land in die Städte durch. In Istanbul sitzen sie als Bettler auf der Straße. Insgesamt aber werden die Flüchtlinge in der Türkei aufopferungsvoll und unter hohen Kosten versorgt und auch dies: menschlich auf- und angenommen.

Nun rügt der türkische Präsident den Rest der Welt und vor allem die Europäer wegen ihrer mangelnden Hilfsbereitschaft. Diese Hilfe ist in der Tat beschämend unscheinbar. Die Europäische Kommission hat zwar gerade mit großer Geste weitere 215 Millionen Euro für die syrische Krisenregion zugesagt, aber nur 50 Millionen fließen in die direkte humanitäre Hilfe und ein Bruchteil davon in die Türkei.

Erdogan am 24. September 2014 bei seiner Rede vor der UN-Generalversammlung; Foto: Reuters/Lucas Jackson
In seiner ersten Rede als türkischer Präsident rief Recep Tayyip Erdogan, am 24. September 2014 vor der UN-Generalversammlung, zu einer stärkeren internationalen Unterstützung für die Opfer des Terrorismus auf. Dabei betonte er, dass die Türkei bereits 1,5 millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen und mehr als 4,5 milliarden zu ihrer Unterstützung gespendet hat. Dies sei ein extremer Kontrast zu den europäischen Ländern, die nur etwa 130.000 Flüchtlinge aufgenommen haben, sagte Erdogan.

Widersprüche im Umgang mit Syrien

Dieser Umgang ist merkwürdig gerade mit einem Verbündeten, dem in der Nato aber auch in allen Programmen der EU höchste strategische Bedeutung zukommt. Die Stabilität der Türkei, ihre politische und militärische Angreifbarkeit und ihr Einfluss in der Region - ob nun auf Russland oder auf die muslimischen Nachbarn - ist von höchster Relevanz. Wieso also wird darüber nicht geredet?

Gründe gibt es immer: Die vergangenen Erdoğan-Jahre haben die Türkei und ihre Verbündeten entzweit. Das EU-Mitgliedsverfahren ist genau das - verfahren. Weder will die Türkei in die Union, noch ist die Union aufnahmebereit. Erdoğans Einfluss auf die muslimischen Bruderstaaten ist sprunghaft und undurchsichtig.

Vor allem im Umgang mit dem syrischen Krieg hat die Türkei mit großen Widersprüchen zu kämpfen. Aus dem Freund Assad wurde ein Feind. Die Aufständischen wurden überwältigt von den Terrormilizen, die Türkei selbst ist mutmaßlich eins der wichtigsten Rekrutierungsländer der Islamisten.

Auf jeden Fall aber ist die Türkei Transitland der internationalen Terror-Pendler - und dieser Terror kann jederzeit wieder über die Grenze zurückschwappen. Ergreift Ankara zu sehr Partei, wird es zum leichten Ziel. Stärkt Erdoğan die Kurden, dann holt er sich mittelfristig das Separatisten-Problem ins Land.

Syrische Flüchtlinge an der Grenze zur Türkei; Foto: Reuters/Murad Sez
In seiner Rede vor der UN-Generalversammlung sagte Recep Tayyip Erdogan, dass die Gegenden um Syrien und Irak „freie Regionen“ für terroristische Organisationen geworden seien. Eine Tatsache, die direkte Auswirkungen auf die Länder dieser Region habe, insbesondere auf die Türkei.

Geld? Daran darf es nicht scheitern!

All das sind begründete Sorgen, derentwegen die Türkei das Flüchtlingsproblem am liebsten mit sich alleine ausmachen würde. Das aber wird nicht gut gehen. Erdoğans Rede vor der UN-Vollversammlung muss man deshalb als Aufforderung zur Einmischung verstehen.

Die Türkei braucht Geld? Daran darf es nicht scheitern - aber Geld alleine reicht nicht. Die Nato sollte mit ihrem wichtigsten Verbündeten auch offen über die Sicherheit der Bündnisgrenzen reden. Die EU kann nicht nur ihre Flüchtlingspolitik ändern, sie muss mit der Türkei offensiv über die Krontolle der Dschihad-Pendler verhandeln.

Die Türkei muss jetzt wissen, dass sie Verbündete hat. Sonst werden diese Verbündeten bald mit dem Vorwurf leben müssen, sie hätten das Land im Stich gelassen - und so verloren.

Stefan Kornelius

© Süddeutsche Zeitung 2014