Politischer Durchbruch oder taktisches Manöver?

Ist die in Genf verkündete Einigung zwischen den Außenministern der USA und Russlands auf einen Plan zur Zerstörung der syrischen Chemiewaffen der Durchbruch zu einer politischen Lösung? Oder ist diese Vereinbarung nur ein Manöver der beiden Großmächte zur eigenen Gesichtswahrung? Antworten von Andreas Zumach

Von Andreas Zumach

Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte. Richtig ist, dass einerseits die russische Regierung der Administration von US-Präsident Barack Obama zunächst aus der Sackgasse herausgeholfen hat, in der diese sich mit den eskalierenden Militärschlagdrohungen der letzten Wochen selbst hineinmanövriert hatte. Dem US-Präsidenten drohte zusätzlich zu der mehrheitlichen Ablehnung von Militärschlägen in der amerikanischen Bevölkerung auch eine empfindliche Abstimmungsniederlage im Kongress.

Andererseits ist Russland mit dem in Genf vereinbarten Plan erstmals seit Beginn des Syrienkonflikts verbindlich beteiligt, zumindest politischen Druck auf die Regierung Assad auszuüben.

"Worst Case"-Szenario für Syrien verhindern

Möglich wurde die Einigung zwischen Moskau und Washington nach über zweijähriger Blockade im UN-Sicherheitsrat wegen der wachsenden Sorge beider Staaten vor folgendem "Worst Case"-Szenario: Syrien zerfällt und immer mehr Teile des Landes geraten unter Kontrolle von al-Qaida nahen islamistischen Milizen, die im schlimmsten Fall sogar Zugang zu den im Lande befindlichen Chemiewaffen erlangen. Dieses Szenario bedroht die unmittelbaren wie die mittelbaren Interessen der USA und Russlands in Syrien und in der gesamten Region.

Rasche Konsequenzen gefordert: Für einen Angriff mit dem Nervengas Sarin in Syrien fanden die UN-Chemiewaffeninspekteure "klare und überzeugende" Beweise. Das Giftgas sei am 21. August in der Nähe von Damaskus mit Boden-Boden-Raketen verschossen und "auch gegen Zivilisten, darunter viele Kinder", eingesetzt worden.

Es liegt daher – trotz aller weiterhin bestehenden Kontroversen zwischen Russland und den USA – im gemeinsamen Interesse der beiden Großmächte, dieses Szenario zu verhindern.

Ein erster Schritt dazu wäre die internationale Kontrolle und anschließende Beseitigung der syrischen Chemiewaffen. Und nur, wenn dieser erste Schritt gelingt, bestünde überhaupt die Chance, dass die USA, Russland sowie die am Syrienkonflikt indirekt beteiligten Regionalmächte Saudi-Arabien, Qatar, der Iran und die Türkei gemeinsam auch ein Ende des Blutvergießens mit konventionellen Waffen durchsetzen sowie die Aushandlung einer politischen Lösung, an deren Ende freie, von den UN überwachte Wahlen in Syrien stehen.

Spätestens im Ergebnis dieser Wahlen wäre das Assad-Regime wohl Geschichte. Das wäre dann auch für Moskau ein gesichtswahrender Weg, einen langjährigen Verbündeten aufzugeben.

Politische und technische Risiken

Natürlich ist die Umsetzung des amerikanisch-russischen Planes – beginnend mit der Offenlegung des gesamten syrischen C-Waffenprogramms durch die Regierung Assad am kommenden Samstag (21.09.2013) bis hin zum Abtransport oder der Zerstörung aller Waffenbestände und Produktionsanlagen bis Mitte 2014 vor Ort – mit erheblichen technischen wie politischen Risiken behaftet. Insbesondere seitens der Regierung Assad, aber auch der Rebellen.

Im Moment sieht es allerdings so aus, als könnte der Plan bereits im UN-Sicherheitsrat scheitern. Laut der zwischen den Außenministern Kerry und Lawrow erzielten Vereinbarung sollte der Rat diese Vereinbarung noch in dieser Woche durch eine Resolution völkerrechtlich verbindlich machen und zugleich die Organisation für die Überwachung der Chemiewaffen-Verbotskonvention (OPCW) in Den Haag mit der praktischen Umsetzung beauftragen.

Einig mit den USA, Frankreich und Großbritannien: Bundesaußenminister Guido Westerwelle machte die syrische Führung unter Präsident Baschar al-Assad für den Chemiewaffen-Einsatz in Damaskus verantwortlich. "Die Indizien sprechen dafür, dass das Assad-Regime hinter diesem Tabubruch steht", so Wsterwelle.

Doch bereits diese Resolution soll nach dem Willen der USA, Frankreichs und Großbritanniens eine Drohung gegen Syrien mit militärischen Maßnahmen enthalten. Diese Absicht steht in Widerspruch zum Wortlaut der Vereinbarung zwischen Kerry und Lawrow. Darin heißt es, dass der Sicherheitsrat erst "im Fall einer Zuwiderhandlung der syrischen Regierung" gegen seine Resolution zur Umsetzung der C-Waffenkontrolle und -vernichtung in einer weiteren Resolution "Maßnahmen nach Kapitel 7 der UN-Charta beschließen" soll.

Eine "Zuwiderhandlung" der Regierung Assad liegt bislang nicht vor. Sie ließe sich frühestens nach dem kommenden Samstag (21.09.2013) feststellen, wenn die syrische Regierung bis dahin ihr C-Waffenprogramm nicht vollständig gegenüber der OPCW offenlegt. Oder wenn die von Damaskus präsentierten Daten gravierend von den amerikanisch-russischen Geheimdiensterkenntnissen über das syrische C-Waffenarsenal abweichen.

Sollte eine Resolution des Sicherheitsrates, die aus dem russisch-amerikanischen Abrüstungsplan für die syrischen Chemiewaffen eine völkerrechtlich verbindliche Vorgabe für Damaskus macht, wegen der Forderung der drei westlichen Vetomächte nach Aufnahme einer militärischen Drohung bis zum Wochenende nicht zu Stande kommen, wird Assad dies wahrscheinlich zum Vorwand nehmen, das syrische C-Waffenprogramm nicht offenzulegen. Dann ließe sich eine "Zuwiderhandlung" der syrischen Regierung feststellen.

Einschaltung des Internationalen Strafgerichtshofs

Andreas Zumach, Jahrgang 1954, ist UNO-Korrespondent in Genf. Er ist gelernter Volkswirt, Journalist und Sozialarbeiter. Jüngste Veröffentlichung: "Die kommenden Kriege" im Verlag Kiepenheuer & Witsch.

Ist das möglicherweise gewollt? Die jüngsten Äußerungen vor allem einiger französischer Politiker, die besonders forsch auf einer militärischen Drohung gegen Syrien bestehen, erhärten zumindest diesen Verdacht. Wenig hilfreich zum derzeitigen Zeitpunkt ist auch die unter anderem von Bundesaußenminister Guido Westerwelle vertretene Position, der Internationale Strafgerichtshof (ISTGH) solle ein Verfahren gegen Assad eröffnen.

Grundsätzlich ist diese Forderung völlig richtig. Doch nicht nur Assad und andere Mitglieder seines Regimes müssen wegen ihrer Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen vor den ISTGH gestellt werden, sondern auch Mitglieder von Rebellengruppen, denen die Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrates in ihrem jüngsten Bericht vorhält, ebenfalls derartige Verbrechen begangen zu haben – wenn auch bislang noch in geringerem Umfang als die Regierungstruppen.

Und es ist damit zu rechnen, dass der UN-Sicherheitsrat spätestens in zwei, drei Jahren mit Zustimmung – oder zumindest Enthaltung Russlands – dem ISTGH auch ein Mandat zu Verfahren gegen syrische Staatsbürger erteilt (was notwendig wäre, da Syrien dem ISTGH bislang nicht beigetreten ist).

Doch vorläufig scheint Assad noch unverzichtbar zu sein – zunächst für die Umsetzung des Plans zur Beseitigung aller Chemiewaffen in Syrien und wahrscheinlich auch als Verhandlungspartner bei der geplanten zweiten Genfer Syrienkonferenz. Und schließlich vielleicht sogar als Mitglied einer Übergangsregierung bis zu Wahlen, die von den Vereinten Nationen überwacht werden.

Für die Opfer des Assad-Regimes ist das verständlicherweise eine unerträgliche Vorstellung. Doch wer den mörderischen Krieg in Syrien endlich stoppen und eine politische Lösung des Konflikts herbeiführen will, wird diese Kröte schlucken müssen.

Andreas Zumach

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de