Der Feind meines Feindes

Wer glaubt, die Sunniten in Tikrit und Mossul werden die Gegner des "Islamischen Staates" als Befreier empfangen, täuscht sich. Sie fürchten die schiitischen Milizen mehr als den IS. Hier zeigt sich, wie sehr der inner-islamische Religionskrieg die irakische Gesellschaft polarisiert hat. Von Stefan Buchen

Von Stefan Buchen

Emsig arbeiten Nahostexperten und Islamismusforscher den Unterschied zwischen dem "Islamischen Staat" und "Al-Qaida" heraus. Sie erklären, warum die neue Bedrohung noch größer sei als die alte. Der IS habe ein "Territorium", Bin Laden habe keines gehabt (was für die Zeit bis Ende 2001 nicht ganz stimmt). Die neuen Terroristen hätten in aller Offenheit ein “Kalifat” ausgerufen, während die alten aus dem Untergrund agiert hätten usw.

Kaum wird die Tinte all der Studien über die "Rückkehr des Kalifats" getrocknet sein, wird es das "Kalifat" womöglich nicht mehr geben. Es schrumpft bereits. Der Spannungsbogen des "Islamischen Staates" wird sich als kleiner erweisen als es die aufwertende Aufmerksamkeit, die er jetzt genießt, erwarten lässt. Völlig verschwinden wird der IS natürlich nicht so schnell. Im Untergrund wird er als extremistisch-sunnitische Splittergruppe fortexistieren und sicher auch noch Schaden anrichten.

Panik vor möglichen Anschlägen in Bremen und Braunschweig sind Nebeneffekte jener übertriebenen Aufmerksamkeit. Ihre Hauptwirkung liegt allerdings darin, dass wir die Geschehnisse im Fruchtbaren Halbmond wie durch das Visier eines "amerikanischen Scharfschützen" sehen. Wie im neuen Action-Film von Clint Eastwood besteht der Feind aus irgendwelchen "wilden Muslimen", die den Westen hassen. Und wie der Hollywood-Regisseur scheinen wir manchmal zu vergessen, dass im Irak das Narrativ "extremistischer Islam gegen den Westen" erst durch die US-geführte Invasion im Jahre 2003 geboren werden konnte.

Verdunkelte Konfliktlinie

Seitdem ist dieses Narrativ durchaus real. Aber es verdunkelt eine andere Konfliktlinie, die sich seit Jahrzehnten durch den Nahen und Mittleren Osten zieht. Wenn man sich an dieser orientiert, dann verblasst der "Islamische Staat" zu einer Episode im langen inner-islamischen Religionskrieg zwischen Schiiten und Sunniten. Das Episodenhafte des "Islamischen Staates" wird deutlich, wenn man ihn in diesen Religionskrieg einordnet, der vor 36 Jahren von der Rivalität zwischen der revolutionären Islamischen Republik Iran und dem Königreich Saudi-Arabien ausgelöst wurde.

Fahne des "Islamsichen Staates" auf der Straße von Tikrit nach Kirkuk; Foto: Imago/Xinhua
Dschihadisten auf dem Rückzug: "Der Spannungsbogen des 'Islamischen Staates' wird sich als kleiner erweisen als es die aufwertende Aufmerksamkeit, die er jetzt genießt, erwarten lässt", schreibt Buchen.

Der junge Wissenschaftler Christoph Günther deutet es mit seiner These vom "zweiten Staat im Zweistromland" an: zu dem neuen schiitisch dominierten Staat im Irak, dessen Eliten sich am großen Nachbarn Iran orientierten, formte sich ab Sommer 2003 ein verborgener Gegenentwurf. Sein Gewaltpotential entlud sich erstmals am 29. August 2003 in einem verheerenden Bombenanschlag in Nadschaf, bei dem der schiitische Geistliche Muhammad Baqir al-Hakim und mehr als 100 weitere Menschen getötet wurden.

Verschiedene Gruppen rückten unter dem imaginären Banner des anti-schiitischen Alternativstaates zusammen: ehemalige Funktionsträger des weggebombten Saddam-Regimes und radikale Islamisten. Was sie einte: sie alle waren Sunniten. Und aus diesem sunnitischen Gegenentwurf ging letztlich der "Islamische Staat" hervor.

Inner-islamischer Religionskrieg: das Beispiel Syrien

Während der konfessionelle Charakter des Konflikts im Post-Saddam-Irak von Anfang an deutlich war, sah der Konflikt in Syrien zunächst wie ein zivilgesellschaftliches Aufbegehren gegen ein verkrustetes autoritäres Regime aus. Aber schon bald hörte man auf Demonstrationen in Homs und Hama Sprechchöre, die den (schiitischen) Alawiten "den Sarg" und den Christen "die Verbannung nach Beirut" wünschten. Ab Sommer 2012 war das Geschehen in Syrien, wo bewaffnete sunnitische Aufständische das Assad-Regime nunmehr mit Gewalt stürzen wollten, von dem im Irak, wo Sunniten – vor allem in den Provinzen Anbar und Mossul – zur "Revolution" gegen die Regierung des damaligen Premiers Nuri al-Maliki aufriefen, nicht mehr zu trennen.

Der Rest ist sozusagen Geschichte. Und die ist noch nicht zu Ende, strebt vielmehr in Tikrit und Mossul einem neuen Höhepunkt zu. Kämpfer des sunnitischen "Islamischen Staates" haben die Geburtsstadt von Saddam Husein zu ihrem Außenposten am Tigris gemacht. Schiitische Milizionäre, angeführt von einem General der iranischen Revolutionsgarden, wollen die Stadt erobern.

Begleitet werden die Feuergefechte von "konfessionellen" Säuberungen. Bei ihrem Vormarsch am Tigris massakrierten die IS-Kämpfer im vergangenen Jahr Schiiten, Soldaten und Zivilisten. Jetzt häufen sich die Berichte, dass Sunniten von vorpreschenden schiitischen Milizionären massakriert werden. Um diesem Schicksal zu entgehen, sind Tausende Bewohner von Tikrit tiefer ins noch vom IS kontrollierte Gebiet geflüchtet.

Schiitische Milizen in Kanaan, Diyala-Provinz; Foto: Reuters
Gefürchtete Schiiten-Milizen: Gelänge die Befreiung Tikrits, brächte das der von Schiiten geführten Regierung in Bagdad enormen Schwung für den weiteren Kampf gegen die IS-Extremisten, die nach wie vor große Teile des Irak und Syriens beherrschen. Doch es häufen sich die Berichte, dass Sunniten von vorpreschenden schiitischen Milizionären massakriert werden. Um diesem Schicksal zu entgehen, sind Tausende Bewohner von Tikrit tiefer ins noch vom IS kontrollierte Gebiet geflüchtet.

Der IS als Gegenstück zu den Schiitenmilizen

Wer glaubt, die Sunniten in Tikrit und Mossul werden die Gegner des "Islamischen Staates" als Befreier empfangen, täuscht sich. Sie fürchten die schiitischen Milizen mehr als den IS. Hier zeigt sich, wie sehr der inner-islamische Religionskrieg die Gesellschaft polarisiert hat. Obwohl viele Sunniten die Exzesse des IS – Hinrichtungen, Zerstörungen von Kunstschätzen, radikale Kleidervorschriften – ablehnen und die IS-Kämpfer sogar als "Terroristen" bezeichnen, sagen sie doch, der IS sei das unvermeidbare Gegenstück zu den Schiitenmilizen.

Die arabisch-sunnitische Bevölkerung wird ihre tolerierende Haltung gegenüber dem IS erst dann ändern, wenn sie erkennt, dass das "IS-Kalifat" unter dem kumulierten Druck aus Schiitenmilizen (inkl. der syrischen Restarmee), der US-geführten Luft- und Spezialtruppenangriffe und der kurdischen Peshmerga und PKK-Kämpfer zusammenbricht.

Zudem schwächt sich das "Kalifat" selbst mit der exzessiven Gewalt nach innen. Eine Mörderbande kann nicht auf Dauer einen "Staat" aufrecht erhalten. Wenn die Sunniten im Fruchtbaren Halbmond befürchten müssen, dass die Schwäche des IS dem Vormarsch der Schiiten Vorschub leistet, werden sie den IS selbst abschütteln. Das wird der Moment sein, in dem die Episode des "Kalifates" zu Ende gehen wird.

Sunnitische Allianz gegen Teheran

Sunniten in Falludscha; Foto: AP/picture-alliance
"Wenn die Sunniten im Fruchtbaren Halbmond befürchten müssen, dass die Schwäche des IS dem Vormarsch der Schiiten Vorschub leistet, werden sie den IS selbst abschütteln. Das wird der Moment sein, in dem die Episode des 'Kalifates' zu Ende gehen wird", meint Buchen.

Aber Ausgleich und inner-islamischen Frieden wird das nicht bedeuten. Wenn der IS als Machtfaktor mit eigenem Territorium verschwindet, wird der Religionskrieg im Fruchtbaren Halbmond trotzdem weitergehen. Saudi-Arabien und die übrigen Golfdynastien werden helfen, eine andere Gegenmacht zu den von Iran unterstützen Regierungen in Bagdad und Damaskus aufzubauen.

Vor diesem Hintergrund erscheinen sogar die Konflikte, die der Westen mit den unterschiedlichen Akteuren im Nahen und Mittleren Osten hat, in anderem Licht. Die sunnitisch-schiitsche Rivalität wird nämlich auch in der Frage ausgetragen, wer den Westen (und Israel) effektiver herausfordern kann.

Diese Logik hat sich schon während der US-Besatzung des Irak gezeigt. Damals konkurrierten die Vorläufer des “Islamischen Staates” und radikale Schiiten um die Auszeichnung, wer mehr amerikanische Soldaten umbringt. Der IS versucht es heute mit Enthauptungen westlicher Geiseln, Anschlägen und der Planierung archäologischer Stätten.

Der Iran provoziert mit seinem Nuklearprogramm, Gewalt gegen Israel und aggressiver Regionalmachtspolitik, deren jüngstes Symbol ein General der Revolutionsgarden auf dem Feldherrenhügel bei Tikrit ist. Frieden wird erst einkehren, wenn man mit solchen Provokationen nicht mehr "punkten" kann.

Stefan Buchen

© Qantara.de 2015

Stefan Buchen arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Magazin Panorama.