Muslime zweiter Klasse

Während der Iran die Ausgrenzung der Schiiten in Saudi-Arabien kritisiert, benachteiligt das Land seine eigene sunnitische Minderheit. In der Islamischen Republik droht einigen Sunniten die Hinrichtung. Dabei geht es allerdings nicht nur um Religion, wie Andreas Gorzewski berichtet.

Von Andreas Gorzewski

Der Iran verfolgt argwöhnisch, wie das sunnitische Saudi-Arabien mit seiner schiitischen Minderheit umgeht. Als saudische Behörden den schiitischen Geistlichen Nimr Baker al-Nimr vor Kurzem hinrichten ließen, brach im Iran als Schutzmacht der Schiiten ein heftiger Proteststurm los. Doch die Führung in Teheran geht umgekehrt mit den Sunniten im eigenen Land kaum besser um, betonen Menschenrechtler. So warten allein im Radschai-Schahr-Gefängnis 27 Sunniten auf ihre Hinrichtung, wie die "Internationale Kampagne für sunnitische Gefangene im Iran" (ICSPI) warnt.

In der Islamischen Republik Iran ist der schiitische Glaube Staatsreligion. Neun von zehn Iranern sind Schiiten. Die Sunniten stellen knapp zehn Prozent der Bevölkerung. Hinzu kommen einige Christen, Juden und andere. Grundsätzlich sind Sunniten im Iran frei, ihre Glaubensform zu praktizieren. Artikel 12 der iranischen Verfassung gesteht ihnen eine weitgehende Gleichbehandlung zu. "Der Iran betont auch außenpolitisch immer wieder, dass er keinen Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten macht", sagt der iranische Journalist und Autor Bahman Nirumand. "Aber in der Praxis sind die Sunniten im Iran doch benachteiligt", schränkt er ein.

Den 27 sunnitischen Häftlingen werden laut ICSPI unter anderem Vergehen gegen die nationale Sicherheit vorgeworfen. Hinzu komme der dehnbare Vorwurf der "Feindschaft gegen Gott". Nach Angaben von ICSPI beteuern die Häftlinge, dass sie lediglich den sunnitischen Islam gepredigt und sunnitische Bücher verbreitet hätten.

Keine Übertritte geduldet

Wenn es um die Mission für eine andere Konfession geht, reagieren schiitische Geistliche und Behördenvertreter empfindlich. Nicht nur Übertritte zum offiziell anerkannten Christentum oder zum massiv verfolgten Bahai-Glauben werden bestraft. Auch andere Richtungen des Islam sollen sich nach dem Willen der religiösen und politischen Führung nicht noch weiter am Nordrand des Persischen Golfs ausbreiten.

Immer wieder im Visier der Sicherheitsbehörden waren in den vergangenen Jahren muslimische Mystiker des Gonabadi-Ordens. Mehrfach wurden Gebetsstätten der Mystiker zerstört und führende Vertreter verhaftet. Eine Protestkundgebung von 800 Anhängern des Ordens in Teheran wurde im Jahr 2014 mit Tränengas aufgelöst. Gonabadi-Mystikern zufolge wollen die Behörden verhindern, dass sich noch mehr Iraner dieser islamischen Gemeinschaft anschließen, die sich vom klassischen Sunnitentum wie Schiitentum unterscheidet.

Sunniten in der iranischen Provinz Balutschistan lesen im Koran
Sunniten in lesen im Koran

Kein Recht auf eigene Moscheen?

Statistiken zufolge gab es im früheren Persien um die 10.000 sunnitischen Moscheen. Die Anzahl der schiitischen Gebetsstätten wird heute auf 50.000 bis 60.000 geschätzt. Damit gibt es für Sunniten im Verhältnis zum Bevölkerungsanteil mehr Gebetsstätten als für die Anhänger der offiziell vorherrschenden Konfession. Doch der Anschein trügt. So kritisiert die Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" (HRW) in ihrem Jahresbericht für 2015, dass die Behörden keine sunnitischen Moscheebauten in der Hauptstadt Teheran erlaubten. Zwei iranische Sunniten berichteten dem französischen TV-Sender France24, dass Sunniten dort in geheime Gebetsräume ausweichen müssten, wenn sie nicht in schiitischen Moscheen beten wollten. Die Behörden hätten zumindest einen solchen Raum in Teheran demoliert. "Einige schiitische Hardliner glauben, dass Sunniten in einem schiitischen Land kein Recht auf eigene Gebetsstätten hätten", erläuterte einer der beiden Sunniten.

Auch in anderen Bereichen werden nicht-schiitische Muslime benachteiligt. Laut HRW ist es für sie deutlich schwieriger als für Schiiten, im öffentlichen Dienst zu arbeiten oder sich politisch zu engagieren. Bereits 2003 hatten 18 sunnitische Parlamentsmitglieder einen offenen Brief an die höchsten religiösen Würdenträger des Landes geschrieben und eine Behandlung der Sunniten als Bürger zweiter Klasse beklagt. Die Abgeordneten fragten, warum es bis dahin keine sunnitischen Minister, Provinzgouverneure oder Botschafter gegeben habe. Erst im Jahr 2015 wurde persischsprachigen Medien zufolge erstmals ein Sunnit zum Botschafter des Landes ernannt.

Konfession oft an Ethnie gebunden

Laut Iran-Experte Nirumand spielt bei der Ausgrenzung oft weniger die islamische Konfession als die ethnische Zugehörigkeit eine Rolle. Die meisten Sunniten in dem Vielvölkerstaat sind Kurden, Turkmenen, Araber oder Balutschen, die in den Randprovinzen des Landes leben. Dort gibt es starke Autonomiebewegungen, gegen die die Zentralregierung in Teheran vorgeht. Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International sieht in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe einen Hauptgrund für Diskriminierungen. So hätten Angehörige der ethnischen Minderheiten schlechteren Zugang zu Wasser, Wohnraum, Arbeit oder Bildung.

Sunnitentum, ethnische Zugehörigkeit und Autonomiebestrebungen vermischten sich in der staatlichen Wahrnehmung, erläutert Nirumand. Dabei fürchtet Iran eine Einflussnahme Saudi-Arabiens auf die eigenen Sunniten - so wie die Führungen in Riad ihrerseits die Schiiten im Königreich als mögliche fünfte Kolonne des Iran ansieht.

Andreas Gorzewski

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