Die schillernde Renaissance der islamischen Mystik

In den Popsongs der Bollywood-Sänger wird der indische Sufismus wiederbelebt. Vermarktet wird diese Musikrichtung, deren Vorreiter Rahman ist, als Botschaft von Liebe und Toleranz in den Fußstapfen der islamischen Mystiker. Ein Millionenpublikum liebt das. Von Marian Brehmer

Von Marian Brehmer

Alle warten sie auf den großen Auftritt. Das Qutub Minar, ein rotes Sandstein-Minarett aus der Mogulepoche, ist in ein träumerisch gelbliches Licht getaucht. Auf der Leinwand einer schwarzen Neumondnacht, hier im Süden von Delhi, bietet der Turm für einige Stunden die perfekt orientalische Kulisse. Hunderte Konzertbesucher starren erwartungsvoll auf die riesige Bühne. Türkische Musik, die jener in den Derwisch-Tekken von Istanbul ähnelt, schallt von einem Band. Die Spannung in der Luft ist greifbar.

Das Konzert an diesem Samstagabend war bereits seit Wochen angekündigt, auf Plakaten in der indischen Hauptstadt und in der "Times of India". Es trägt den Namen "The Sufi Route" und bringt die großen Sänger der indischen Sufi-Musikszene auf die Bühne, aus Musikstilen wie Qawwali, Ghazal und Sufi-Folklore. Die Ticketpreise rangieren zwischen 70 und 300 Euro, für die meisten in Indien unerschwinglich. Dennoch waren sich die Organisatoren sicher, dass das Konzert auf große Resonanz stoßen würde.

Der "Mozart von Madras"

Als endlich A.R. Rahman erscheint, tobt das Publikum. Die nächsten zwei Stunden sind ein einziges musikalisches Beben. Kein anderer Musiker und Sänger hat in Indien in den letzten drei Jahrzehnten ähnliche Popularität erlangt wie Rahman. Der tamilische Filmkomponist sang sich von Hit zu Hit in die Herzen der Massen. Bollywood machte ihn berühmt, doch inzwischen verkörpert Rahman mehr als nur den indischen Filmsoundtrack. Sein Talent, diverse Musikstile geschmackvoll zu einprägsamen Melodien zu vermischen hat ihm den Spitznamen "Mozart von Madras" eingebracht.

Rahman, ein geborener Hindu der im Alter von 23 Jahren zum Islam konvertierte, ist selbsterklärter Sufi und Anhänger des Sufi-Heiligen Moinuddin Chishti aus dem 12. Jahrhundert. Rahmans spirituelle Orientierung spiegelte sich in den letzten Jahren besonders in seiner Musik wider: Er komponierte eine Reihe poppiger Sufi-Hymnen, in denen mystisch-islamische Elemente wie das zikr, Lobgesänge auf den Propheten oder ekstatische Liebesverse an Gott mit indischen Beats verschmelzen.

Die islamische Symbolik kam beim Millionenpublikum gut an, zum Beispiel in dem erfolgreichen Bollywood-Blockbuster "Jodaa Akbar". In einer inzwischen legendären Szene sitzt Schauspieler Hrithik Roshan, der den Mogulherrscher Akbar verkörpert, vor einer Versammlung von Derwischen. Qawwali-Musik wird dargeboten, wozu sich Derwische in weißen Kleidern und braunen Filzhüten drehen.

So fehlplatziert die drehenden Derwische, die in den Riten des türkischen Mevlevi-Ordens beheimatet sind, auf dem Bollywoodset auch sein mögen - "Sufiaana", die neue Form der Sufi-Populärkultur, hat sich in Indien inzwischen als eigenes Genre etabliert.

Das schöne Gesicht des Islam

Vermarktet wird diese Musikrichtung, deren Vorreiter Rahman ist, als Botschaft von Liebe und Toleranz in den Fußstapfen der islamischen Mystiker. Der berührende und zugleich massentaugliche Sufi-Cocktail wird von den Fans als schönes Gesicht des Islam gefeiert. Dem "gewöhnlichen" Islam hingegen treten viele in der indischen Gesellschaft mit Vorurteilen entgegen, welche nicht zuletzt durch die Massenmedien geschürt werden. 

Während der Präsidentschaft von Modi hat die Stimmungsmache gegen den Islam zu vermehrten Angriffen auf Muslime vor allem in den Straßen Nordindiens geführt. Faschistische Mobs griffen Muslime an, die unter Verdacht standen, Rindfleisch verzehrt zu haben. Oft stellten sich solche Nachrichten im Nachhinein als falsche Gerüchte heraus.

Hier möchte der komponierende Sufi Rahman als Botschafter des Friedens die Menschen zusammenbringen. Während seiner Show beschwört der Star die Einheit aller Inder: "We are all India! We are one!" Das Publikum tobt. Musik gegen Spaltung und Vorurteile - das kommt beim "Sufi Route"-Konzert gut an. Tatsächlich ist der Einfluss geliebter Künstler wie Rahman auf die Stimmung der Massen wohl nicht zu unterschätzen.

Verschwimmende Grenzen zwischen Hindus und Muslimen

Rahmans Bühnenkulisse besteht aus flimmernden Computeranimationen, projiziert auf vier große Leinwände: wirbelnde Koranverse, Säulen einer marokkanisch anmutenden Moschee und das Sufi-Mantra "HU", hundertfach schwebend wie in einem Bienenschwarm. Als Rahman am Ende "Khwaja Mere Khwaja" anstimmt, eine Hymne auf Moinuddin Chishti, wiegt und singt sich die Menge in Trance. Die Grenzen von Hindus oder Muslimen scheinen zu verschwimmen und die Einheit jenseits von Konfessionsgrenzen in musikalischer Seligkeit erreicht.

Dabei werden die dargahs, Indiens Sufi-Schreine, schon seit Generationen von Muslimen und Hindus gleichermaßen aufgesucht. Religionsausübung in Indien ist zutiefst synkretistisch. So verwundert es nicht, dass die islamische Symbolik bei Rahmans Konzert von allen gut aufgenommen wird. Viele der sufischen Rituale auf dem Subkontinent ähneln jenen, die auch in Hindutempeln praktiziert werden - etwa das Darbringen von Blumen und Anzünden von Räucherstäbchen.

A.R. Rahman während eines Konzerts im indischen Bhopal im Jahr 2012; Foto: Rajeev Gupta/AP
Berührender und zugleich massentauglicher Sufi-Cocktail: Als Pionier dieses musikalischen Genres gilt der tamilische Filmkomponist A.R. Rahman, der sich von Hit zu Hit in die Herzen der Massen sang. Bollywood machte ihn berühmt, doch inzwischen verkörpert Rahman mehr als nur den indischen Filmsoundtrack. Sein Talent, diverse Musikstile geschmackvoll zu einprägsamen Melodien zu vermischen hat ihm den Spitznamen "Mozart von Madras" eingebracht.

Aufgrund des Sufiaana-Booms sind Sufi-Schreine wie die dargah von Nizamuddin Awliya in Delhi besonders an Donnerstagabenden, wenn Qawwali-Musik ertönt, inzwischen vollkommen überlaufen. “Dies ist eine sehr neue Entwicklung, so viele Besucher habe ich zuvor nie erlebt”, erinnert sich die Sufi-Forscherin Sadia Dehlvi aus Delhi, die den Nizamuddin-Schrein seit ihrer Kindheit besucht.

"Den Sufismus vor Bollywood retten"

Islamische Mystik als Massenphänomen? Ist der Sufismus, wie ihn Bollywood verkörpert, etwa nur ein modisches Wohlfühlpaket, das aus Tanz und Musik besteht? Auch wenn Rahman mit seinem Zugang zu den Köpfen und Herzen von Millionen Indern eine wichtige Rolle als kultureller Botschafter spielt, lässt sich dieser Vorwurf nicht von der Hand weisen.

Ein Sufi-Musical, das im letzten Jahr von drei unabhängigen Künstlern aus Mumbai aufgeführt wurde, wurde auf der populären Nachrichtenseite scroll.in mit der Überschrift "Den Sufismus vor Bollywood retten" betitelt. Die Macher der Show hatten vor ihrem Auftritt Islamwissenschaftler konsultiert und sich in die Geschichte des Sufismus eingelesen. Sie kritisieren, dass der Glamour von Bollywood den Sufismus für sich vereinnahmt und zur Verwässerung subtiler Weisheiten führt. 

Oftmals eingebettet in eine schnulzige Lovestory, transportieren die Sufi-Szenen nichts vom eigentlichen Geist des Sufismus. Und doch gibt Rahmans Musik vielleicht für den ein oder anderen Fan Anstoß, tiefer zu graben im reichen Erbe des sufischen Islam in Indien - und dabei einzutauchen in das vereinende Feld der Mystik, welches als Gegenmittel schon so manch aufkeimenden Spaltungen ein Ende gesetzt hat.

Marian Brehmer

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