Gelebte Tradition im deutschen Alltag

In einem kleinen Dorf in der Eifel leben deutsche Sufis des Naqschbandi-Haqqani-Ordens. Thilo Guschas hat die Gemeinde "Osmanische Herberge" besucht und ihre Lebensgewohnheiten beobachtet.

Hassan Dyck: Geistiger Führer der Sufi-Gemeinde; Foto: Thilo Guschas
Hassan Dyck: Religiöser Lehrer und geistiger Führer der "Osmanischen Herberge"

​​Dreißig Personen sitzen in einem Saal zusammen. Die Männer in einem großen Kreis, die Frauen in einer Ecke, durch Vorhang abgetrennt. Deutsche Sufis, Anhänger des Naqschbandi-Haqqani-Ordens, feiern ein so genanntes "dhikr", eine Gottesanbetung.

Man singt gemeinsam, dann folgt ein Monolog von Hassan Dyck, dem geistigen Führer der "Osmanischen Herberge", dem Hauptquartier des Ordens, gelegen im abgeschiedenen Eifel-Dorf Kall-Sötenich.

Dyck spricht zum Thema "Wasser". Es wirkt wie ein Gedankenstrom: "Wasser ist heilig, hier in der Eifel ist es sauber, aber die moderne Zivilisation verschwendet es, das ist typisch ..." Die Anwesenden versuchen versteckte Botschaften aus Dycks Ausführungen zu ziehen.

Mystischer Islam in Deutschland

Sufismus ist die mystische Form des Islam. Ein Sufi versucht das eigene Selbst zu durchdringen, um schlechte Eigenschaften zu überwinden und sich Gott anzunähern. Unterstützung bieten religiöse Lehrer wie Hassan Dyck. Feste Rezepte gibt es keine, jeder muss seinen eigenen Weg finden.

Seit dem 12. Jahrhundert ist der Sufismus in der islamischen Welt eine Massenbewegung, beispielsweise in Marokko und Ägypten. Länderübergreifende, große Ordensgemeinschaften sind im Laufe der Jahrhunderte entstanden. Der Naqschbandi-Haqqani-Orden ist eine von ihnen, mit Mitgliedern in der Türkei, in Syrien, den USA und Deutschland.

Die deutschen Naqschbandi-Sufis fallen durch ihr Äußeres auf. Die Frauen tragen wallende Kleidung, die Männer Turban und lange Bärte. Im Umkreis der "Osmanischen Herberge" leben rund hundert Familien, die dem Orden angehören, in Siedlungen und kleinen Dörfern. Eine abgeschottete, esoterische Lebensweise – ist das der Sufismus?

Sufismus in der Praxis

Sufi beim Musizieren mit Kindern; Foto: Ikhlas Abbis
Bei den Sufis wird die Gemeinschaft gelebt.

​​Überhaupt nicht, meint einer der Anwesenden. Sufismus sei konkret und praktisch: "Die erste Ordensregel ist, dass man heiratet. Dann hat man vielleicht bald Kinder, sucht sich einen Beruf, um die Familie zu ernähren. Es ist das Gegenteil von Rückzug: Keine Wahrheitssuche im Kloster, sondern im alltäglichen Leben."

"Heiraten und Kinderkriegen, diese Ordensregel gibt es bei uns nicht!", meint dagegen Hassan Dyck. Offenbar existieren keine strengen Verhaltensregeln - zumindest keine, die einheitlich nach Außen vertreten werden.

Vorbild Osmanisches Reich

Was hat es mit der osmanischen Tracht auf sich, den Turbanen und Bärten? Das Osmanische Reich sei für den Orden ein großes Vorbild:

"Wenn der Westen das osmanische Kalifat nicht abgeschafft hätte, hätten nie diese seltsamen Terror-Blüten entstehen können, unter denen wir heute leiden! Schließlich war der letzte Sultan doch ein Kalif des Propheten!"

Das Osmanische Reich und der heutige Terror – unkonventionelle Ansichten, die aus dem zurückgezogenen Orden selten nach draußen dringen.

Misstrauen abbauen

Doch bei Außenstehenden erregt allein die nostalgische Kleidung Misstrauen. "Ach, die, die so komisch herumlaufen", meint etwa die Metzgerin naserümpfend, deren Geschäft hundert Meter von der "Osmanischen Herberge" entfernt liegt.

An der Eingangstür der "Herberge" hängt ein Plakat: "Tag der offenen Tür. dhikr mit Rockmusik!" Ein Versuch, Vorurteile zu entkräften. Vor einiger Zeit, kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001, war die "Herberge" von Polizeikräften gestürmt und durchsucht worden. Begründung war ein Terrorverdacht, der sich allerdings nicht erhärtete.

Kleidung als Identitätsgewinn

​​Die von Außenstehenden als anstößig empfundenen osmanischen Trachten sind eine Spezialität deutscher Sufis. Sogar für Sufis in der gegenwärtigen Türkei wären sie allerdings ungewöhnlich. Die altertümliche Kleidung habe damit zu tun, dass eine orientalische Religionspraxis in einen europäischen Alltag überführt wird, meint der Islamwissenschaftler Ludwig Schleßmann:

"Die deutsche Sufi-Bewegung hat sich immer wieder von anderen esoterischen Gruppen absetzen müssen, hat wieder zum Traditionalismus, zur Orthodoxie gefunden, und dann wiederum Kompromisse gemacht an Lebensgewohnheiten hier."

Kompromisse für die Alltagstauglichkeit

Den Naqschbandi-Anhängern werden "erdnahe" Berufe empfohlen, Landwirtschaft, Handwerk. Doch der Orden ist zu auch Kompromissen bereit. So müsse ein erfolgreicher Informatiker nicht aus einer Großstadt wegziehen und gegebenenfalls von Hartz IV leben, wenn er für "erdnahe" Berufe nicht geeignet ist.

Ein anderes Beispiel sind technische Neuerungen. Sie gelten als schädlich – zugleich nutzt man sie jedoch gerne. Die aufwändig gestaltete Internetseite der "Osmanischen Herberge" enthält Newsletter und podcasts.

Wandel der Zeit

Orthodoxie gegen Kompromissbereitschaft – was setzt sich durch? Schwer zu sagen, meint Schleßmann. Es herrsche eine starke, historisch gewachsene Eigendynamik, immerhin bestehe der Orden schon seit den 70er Jahren.

"Es gibt immer mehr Menschen, die seit langem dem Orden angehören, Familien gegründet und Kinder bekommen haben. Dann stellen sich wieder neue Fragen nach Erziehung, die den Orden dann prägen und gegebenenfalls festigen", so Schleßmann.

Thilo Guschas

© Qantara.de 2007

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