Der Taktierer

Hassan al-Turabi ist ein Mann mit vielen Gesichtern und eine der schillerndsten Gestalten des politischen Islam. Im Laufe seiner über 40-jährigen politischen Karriere hat er Anhänger wie Kritiker mit häufigen Wendungen überrascht. Ein Porträt von Claudia Mende

Von Claudia Mende

Erwartungsgemäß hat Präsident Omar al-Bashir die ersten Wahlen nach der Abspaltung des Südsudan im Jahr 2011 gewonnen. Al-Bashir, seit 1989 an der Macht, erhielt 94 Prozent aller abgegebenen Stimmen. Aber nicht nur die Regierung, auch die Opposition im Sudan wird seit Jahrzehnten von den gleichen Politikern dominiert. Einer von ihnen ist der islamistische Vordenker Hassan al-Turabi. Turabis "Popular Congress Party" hatte mit anderen Oppositionsparteien zum Boykott der Wahlen aufgerufen.

Dabei waren Hassan al-Turabi und Omar al-Bashir lange Zeit enge Verbündete. Al-Turabi ist eine der schillerndsten Gestalten des politischen Islam. Seine Ansichten haben zu zahlreichen Kontroversen im breiten Spektrum des Islamismus geführt. Je nach dem, ob er gerade als Intellektueller das Wort ergreift oder als Stratege der Macht können seine Ansichten stark variieren. Erst in den letzten Jahren ist es ruhiger um ihn geworden.

Die Islamisierung des Sudan

Hassan al-Turabi wurde 1932 in Kassala im Ostsudan geboren; sein Vater war Qadi, ein islamischer Richter. Der junge Turabi studierte Jura, zunächst in Khartum, später in London. Anschließend promovierte er an der Sorbonne in Paris über angelsächsisches und französisches Verfassungsrecht.

Zu Al-Turabis größten Stärken gehört zweifelsohne seine Eloquenz, mit der er Menschen für sich begeistern kann. Außerdem spricht er fließend Englisch und Französisch und ist auch mit seinen 83 Jahren noch erstaunlich umtriebig. Seit den 1980er Jahren baute er sich mit strategischer Weitsicht gezielt eine Hausmacht für sein Hauptziel auf: die Islamisierung des Sudan.

Als er in der 1980er Jahren unter dem damaligen Diktator Dschafar Nimeiri Generalstaatsanwalt war, ließ er den liberalen Theologen Mahmoud Mohammed Taha wegen angeblicher Apostasie anklagen, vor Gericht stellen und im Januar 1985 hinrichten. Später haben sich der inzwischen verstorbene Nimeiri und Al-Turabi gegenseitig die Schuld für die Hinrichtung Tahas in die Schuhe geschoben.

Sudanesischer Präsident Omar al-Baschir; Foto: Ashraf Shazly/AFP/Getty Images
Vom einstigen Verbündeten zum größten Kritiker: Der gemäßigte Islamistenführer Hassan al-Turabi war einst engster politischer Verbündeter und Mentor des jetzigen sudanesischen Präsidenten Al-Baschir. Bei dem Militärputsch 1989, durch den Al-Baschir im Sudan an die Macht gekommen war, hatte Al-Turabi eine zentrale Rolle inne. Zehn Jahre später zerbrach jedoch die politische Männerfreundschaft: 1999 enthob Al-Baschir den damaligen Parlamentspräsidenten Al-Turabi seines Amtes. Dieser gründete daraufhin mit der "Popular Congress Party" seine eigene Partei.

Nach einem Militärcoup gegen Ministerpräsidenten Sadiq al-Mahdi gelangte 1989 Omar al-Bashir, unterstützt von den Islamisten um Turabi und seiner damaligen Partei "National Islamic Front", an die Macht. Aber bis weit in die 1990er Jahre war Al-Turabi der Chefideologe und eigentliche Drahtzieher des Regimes. Innerhalb dieser zivil-militärischen Symbiose war Bashir zwar ab 1996 als Präsident der formale Herrscher.

Im Zentrum der Macht

Hassan al-Turabi hingegen – obwohl als Parlamentssprecher ohne offizielles Staatsamt – war das eigentliche politische Machtzentrum und der Treiber im Islamisierungsprozess gegen den Widerstand großer Teile der Bevölkerung.

Durch die Einführung der Geschlechtertrennung im öffentlichen Leben und die Wiedereinführung der Scharia März 1991, aber auch durch ein landesweites Alkoholverbot sowie durch einen islamischen Kleiderkodex für Frauen wollte Al-Turabi das Land an der Nahtstelle zwischen arabischer Welt und Schwarzafrika in seine rigiden Islamvorstellungen zwängen, die dem von vielen unterschiedlichen Ethnien geprägten Sudan fremd sind. Die Folge: In den 1990er Jahren wurde der Sudan zu einem Sammelbecken für radikale Dschihadisten aller Art, auch Osama bin Laden soll sich zeitweise im Land aufgehalten haben.

Die Einführung der Scharia war ein entscheidender Grund für die Wiederaufnahme des Krieges mit den Rebellen aus dem Südsudan, der erst 2011 mit der Abspaltung des Südsudan zu einem Ende kam.

Das Scheitern des islamistischen Experiments

Das islamistische Experiment im Sudan wurde in der Region aufmerksam beobachtet. Heute sagt Al-Turabi selber, dass es gescheitert sei – aber angeblich nur wegen der Unfähigkeit der Militärs um Omar al-Bashir. Die Militärregierung habe das Land ruiniert und nur Demokratie könne die vielen Probleme des Sudan lösen, so Al-Turabi. Der Chefideologe einer Regierung die mit eiserner Faust das Land regierte, beharrt nun auf Demokratie. Diese Form des Opportunismus ist typisch für Hassan al-Turabi, der als Kopf des islamistischen Experiments mitverantwortlich für das Desaster im Sudan ist.

Erst nach einem Versuch Al-Turabis, die Macht von Präsident Al-Bashir in der Verfassung zu beschneiden, kam es im Jahr 1999 zum Bruch. Das Parlament wurde aufgelöst, der Ausnahmezustand ausgerufen. Al-Turabi verlor sein Amt und wurde bis 2003 inhaftiert. Der große Stratege hatte die Machtverhältnisse falsch eingeschätzt.

Wahllokal in einem Vorort der sudanesischen Hauptstadt Khartum; Foto: AFP/Getty Images/P. Baz
Jüngster Wahlerfolg für Sudans Staatschef al-Baschir: Bei der jüngsten Präsidentschaftswahl vom vergangenen April konnte der umstrittene Langzeitpräsident des Sudans, Omar al-Baschir, 94 Prozent der Stimmen bekommen. Die großen Oppositionsparteien hatten die Wahl boykottiert. Der 71-Jährige Al-Baschir, der sich im Jahr 1989 an die Macht putschte, hatte 15 Mitbewerber, die jedoch in dem Wüstenstaat völlig unbekannt sind.

Doch damit war der wendige Intellektuelle politisch noch nicht am Ende. Nach seiner Freilassung 2003 nutzte er seinen nach wie vor großen politischen Einfluss und intrigierte gegen die einstigen politischen Weggefährten. Angeblich soll er die Rebellenbewegung "Justice and Equality Movement" (JEM) in Darfur unterstützt haben, was ihm aber nie nachgewiesen werden konnte. 2004 kam Al-Turabi deswegen erneut ins Kobar-Gefängnis in Omdurman.

Er sei ein aufgeklärter Islamist, so präsentiert Al-Turabi selber seine Position. Tatsächlich vereint er eine erstaunliche Mixtur in seiner politischen Ideologie: 2006 erklärten ihn frühere Weggefährten aus dem Umfeld der sudanesischen Muslimbrüder zum Apostaten, weil er sich für Frauenrechte eingesetzt hatte. Das "Muslim Scholars Committee", ein Kreis von islamischen Gelehrten, die große Teile der Moscheegemeinden im Sudan kontrollieren, forderte damals, Al-Turabi wegen seiner liberalen Ansichten vor Gericht zu stellen.

Sollte es Al-Turabi am Ende so gehen wie Mohammed Taha? Das traute sich das Regime aber nicht, das den Einfluss des Ideologen im Land nach wie vor fürchtet. Die Justiz im Sudan ist in Teilen lediglich ein Instrument in den Händen der jeweils Mächtigen.

Ein Mann der Widersprüche

So mutierte der Mann, der einst mit der Einführung einer strengen Kleiderordnung die Sudanesinnen in ihrem Alltag massiv eingeschränkt hatte, zum Frauenrechtler. Al-Turabi betonte jetzt, Frauen sollten sich nur freiwillig verhüllen. In einer erstaunlichen Kehrtwende verlangte er, das Aussagen von Frauen vor Scharia-Gerichten genauso viel zählen sollten wie die der Männer. Außerdem sollte es "frommen Frauen" erlaubt werden, eine gemischte Gebetsversammlung anzuleiten – eine Forderung, die selbst manchen liberalen Muslimen zu weit geht.

Mit dieser Kehrtwende ließ ausgerechnet Al-Turabi die Vorstellungen des sunnitisch-islamischen Establishments bei der Al-Azhar in Kairo alt aussehen. Und im eigenen Lager stiftete er damit große Verwirrung. Doch die Widersprüche zwischen seinen theoretischen und praktischen Vorstellungen sind bis heute bezeichnend für Hassan al-Turabis Politikstil geblieben.

25 Jahren nach Beginn seines islamistischen Projekts liegt der Sudan wirtschaftlich am Boden, die Menschenrechtslage ist katastrophal und  auch nach der Trennung vom Süden wird das Land von Konflikten in den Regionen Darfur und Kordofan zerrissen.

Claudia Mende

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