Krieg der Narrative

"Die Araber und der Holocaust" ist die erste umfassende Studie auf Arabisch über das vielschichtige Verhältnis der Araber zum Holocaust. Diese Studie des libanesischen Historikers Gilbert Achcar will vor allem die arabische Welt über den Holocaust aufklären. Samir Grees hat sie gelesen und darüber mit dem Autor gesprochen.

​​ Das Thema Holocaust löst bei vielen Arabern gemischte Gefühle und Assoziationen aus. Denn es handelt sich dabei – so meinen einige – um zionistische Propaganda, um die Existenz des Staates Israel zu legitimieren. Der Holocaust, so meinen andere, sei eine historische Tatsache, die jedoch der Vergangenheit angehöre; man solle sich lieber um das Unrecht in der Gegenwart kümmern und über die Gewalttaten und Verbrechen Israels sprechen.

Andere Stimmen wiederum merken an, die Schrecken der Vergangenheit, auch die des Holocausts, sollten niemandem eine "moralische Immunität" oder einen "Sonderstatus" im internationalen Recht verleihen.

Das Problem an dieser Argumentation ist jedoch, dass man dazu neigt, die Verbrechen der Vergangenheit zu verharmlosen, zu relativieren oder sogar zu leugnen. So werden Holocaustleugner wie Roger Garaudy, David Irving oder Ahmadinejad unter vielen Arabern als Helden gefeiert. Problematischer wird es noch, wenn man über den Holocaust oder den Nationalsozialismus spricht, obwohl man wenig, sehr wenig darüber weiß.

Genau diese Lücke will das kenntnisreich und fundiert geschriebene Buch von Gilbert Achcar, des libanesischen Historikers an der School of Oriental and African Studies in London, schließen. Sein Buch "Die Araber und der Holocaust – der arabisch-israelische Krieg der Narrative" ist die erste umfassende Studie eines arabischen Historikers, die das komplexe Verhältnis der Araber zum Holocaust beleuchtet. Eine sachliche und solide Untersuchung von großer Bedeutung, wie auch Ulrike Freitag, Leiterin des "Zentrums Moderner Orient" in Berlin, bestätigt.

Gibt es "die Araber"?

Die "Araber" existieren nicht als politische Einheit und besitzen keine homogene Identität – so Achcar - genau so wenig wie man von "den Muslimen" oder "den Juden" sprechen könne.

Achcar bemüht sich in seiner Studie darum, die Verschiedenheit der arabischen Positionen zum Holocaust und Zionismus darzulegen. Für die 1940er Jahre macht er hierbei vor allem vier Standpunkte ausfindig, die er als liberal, marxistisch, national und religiös-salafistisch klassifiziert.

Amin al-Husseini; Foto: DW
Es sei nicht zulässig, von der bekannt Nazi-freundlichen Haltung Muftis von Jerusalem auf alle Araber zu schließen, so Achcar.

​​ Dabei ließen sich Standpunkte finden, die von der ausdrücklichen Verurteilung des Nationalsozialismus bis zur klaren Feindschaft gegenüber Juden reichten. Die Liberalen und Marxisten, so Achcar, haben zwischen Juden und Zionisten differenziert und den Holocaust ganz eindeutig verurteilt. Die Nationalisten jedoch hätten Gefallen am nazistischen und faschistischen "Vorbild" gefunden und versucht, es nachzuahmen. Die religiös-salafistische Strömung wiederum habe durch eine selektive Auslegung von Koransuren einen judenfeindlichen Diskurs entwickelt und diesen mit Inhalten aus antisemitischen Schriften wie den "Protokollen der Weisen von Zion" durchsetzt.

Die Haltungen dieser verschiedenen Gruppen begründen jedoch nicht den Vorwurf der direkten Verwicklung der Araber in den Holocaust. Diese Vorwürfe bezeichnet Achcar als eine "Karikatur". Gewiss, der Großmufti von Jerusalem, Scheich Amin al-Hussaini, hatte enge Beziehungen zu Nazigrößen wie Hitler und Himmler.

Aber dies alles sei bekannt und gut dokumentiert, sagt Achcar im Interview mit Qantara.de: "Der Mufti spielte eine wichtige Rolle in der Propaganda für den Nazismus und Faschismus in der arabischen und islamischen Welt. Er war beteiligt an der rassistischen Nazi-Kampagne gegen Juden sowie an der Bildung zweier Bataillonen muslimischer Soldaten in Bosnien, die mit den Nazi-Truppen kämpften." Dennoch sei es nicht zulässig, von der Haltung des allgegenwärtigen Mufti auf alle Araber zu schließen. Denn diese Position sei schon damals von vielen Arabern verurteilt worden.

Den Mufti in seinem historischen Kontext sehen

Diese Einschätzung teilt auch die Historikerin Ulrike Freitag, die auf den historischen Zusammenhang hinweist, auf die Zeit, als die Palästinenser mit der massenhaften Einwanderung der Juden in ihre Heimat konfrontiert waren. Unter den Arabern hätte nur "eine Minderheit" die pro-nazistische Meinung des Mufti vertreten, sagt Freitag.

Ulrike Freitag; Foto: ©David Ausserhofer/Zentrum Moderner Orient (ZMO)
Die Historikerin Ulrike Freitag weist darauf hin, dass nur "eine Minderheit" unter den Arabern die pro-nazistische Meinung des Mufti vertrat.

​​ Deshalb werde die Rolle von al-Hussaini "maßlos übertrieben" dargestellt, so Achcar in seinem Buch. Als Beispiel führt er an, dass die Holocaust-Enzyklopädie, die von der Gedenkstätte Yad Vashem herausgegeben wird, dem Mufti von Jerusalem dem zweitgrößten Artikel nach Hitler widmet, als hätte er eine direkte Verantwortung für den Holocaust zu tragen. "Der Holocaust", sagt Freitag dazu, "ist ein deutsches Verbrechen. Er ist weder das Verbrechen der Araber noch von Anderen."

Ferner weist Achcar darauf hin, dass die Zahl der Araber, die mit den Nazis gekämpft hätten, nicht mehr als 6000 Mann betragen habe. Es habe jedoch etwa 9000 Palästinenser gegeben, die mit den Briten, sowie etwa eine Viertel Million Marokkaner, die mit den Franzosen gegen die Nazis gekämpft hätten: "Trotzdem erscheinen Bücher in allen Sprachen, die uns überzeugen wollen, dass die Araber Anhänger der Nazis gewesen sind. Das ist Verleumdung", stellt Achcar fest.

Antisemitismus in Europa

In Europa gebe es eine lange Geschichte des Antisemitismus, jedoch habe im arabischen Raum vor der Palästina-Frage keine Judenfeindlichkeit in dieser Form existiert.

Es sei bekannt, dass die Stellung der Juden in der islamischen Welt im Allgemeinen besser gewesen sei als in der christlichen Welt, so Achcar: "Wohin sind die Juden geflüchtet als sie aus Spanien vertrieben wurden? In die islamische Welt." Dies bestätigt Ulrike Freitag und sagt, bis in die 1930er Jahre hätten die Juden in der arabischen Welt ohne Probleme gelebt: "Das Bild änderte sich erst mit der zunehmenden jüdischen Einwanderung nach Palästina."

Auf der anderen Seite kritisiert Achcar den "Philosemitismus", der in einigen europäischen Ländern herrsche. Er führt ihn auf die Schuldgefühle der Europäer zurück, meint aber, dass diese Form von "emotionaler und unkritischer Liebe" die andere Seite der Medaille des Antisemitismus sei.

Sympathie für die Nazi-Ideologie

Die Beweggründe derer im arabischen Raum, die mit dem Nazi-Regime sympathisiert haben - nach dem Motto "der Feind meines Feindes ist mein Freund" - beleuchtet Achcar in seinem Buch auch. Obwohl sie geglaubt hätten, dass ihnen im Konflikt mit den Briten und Franzosen eine Allianz mit den Nazis helfen würde, sieht der Autor keine weite Verbreitung des Nazigedankengutes im arabischen Raum.

Commenwealth Kriegsgräberdenkmal für die britischen Gefallenen bei der Schlacht von el-Alamein; Quelle: Wikipedia
Der Feind meines Feindes ist mein Freund: Einige Araber hofften, dass ihnen eine Allianz mit Nazi-Deutschland in ihrem Konflikt mit Briten und Franzosen nützlich sein könnte.

​​ Wie kann man dann die Beliebtheit Hitlers bei einfachen Arabern erklären? Warum riefen die Demonstranten auf den Straßen Kairos während der Schlacht von El Alamein 1943 "Weiter, Rommel, weiter!"? Ist diese Begeisterung nur dadurch zu erklären, dass hier das Motto galt "der Feind meines Feindes ist mein Freund"? Oder gab es damals einen verwurzelten Antisemitismus in den arabischen Ländern?

Auch hier werde stark übertrieben, sagt Achcar im Interview mit Qantara.de: "Ja, ein Teil der öffentlichen, politisch sehr naiven Meinung glaubte, dass Hitler ein Held gewesen ist". Aber in anderen Ländern, die auch unter britischer Kolonialherrschaft standen, habe man ähnliche Ansichten vertreten – wie in Indien.

"Ich glaube, der Hauptgrund für die arabische Unterstützung Nazi-Deutschlands ist tatsächlich die feindliche Haltung der Deutschen gegenüber den Kolonialmächten", meint auch Ulrike Freitag. Und fügt hinzu: "Man muss aber auch sagen, dass es bestimmte Gruppen in der arabischen Welt gab, die sich Teile des nazistischen Gedankengut zu eigen machten."

Holocaust-Leugnung aus Ignoranz und mangelnde Aufklärung

Für viele Araber ist der Holocaust ein "Mythos", der zur Gründung des Staats Israel benutzt wurde. Die Gründe dafür erklärt Achcar in seinem Buch auf überzeugende Weise. Er unterscheidet jedoch auch hier die verschiedenen Haltungen über die vergangenen Jahrzehnte und betont: "Ja, die Leugnung des Holocausts nimmt zu, aber man darf diese Haltung nicht so darstellen, als wären alle Araber Holocaust-Leugner. Die meisten glauben, dass der Holocaust etwas Schreckliches und Unmenschliches war."

Dass es Kenntnis vom Holocaust gab, zeigt übrigens auch ein Tagebucheintrag von al-Hussaini nach seinem Treffen mit Heinrich Himmler im Sommer 1943: Er notiert, Himmler habe ihm mitgeteilt, dass bis dahin etwa drei Millionen Juden vernichtet worden seien. Auch der Mufti selber leugnete also den Holocaust nicht.

Gilbert Achcar; Foto: privat
"Ja, die Leugnung des Holocausts nimmt zu, aber man darf diese Haltung nicht so darstellen, als wären alle Araber Holocaust-Leugner", sagt Gilbert Achcar.

​​ Was viele heute dazu bewegt, den Holocaust zu leugnen oder die Zahl der Opfer anzuzweifeln, habe mit der Instrumentalisierung dessen durch Israel im Nahost-Konflikt zu tun: Die Israelis benutzten den Holocaust, um ihre Politik zu rechtfertigen, sagt Achcar. So sagte einmal der ehemalige israelische Ministerpräsident und Außenminister, Menachem Begin, die internationale Gemeinschaft habe nach dem Holocaust jedes Recht verloren, Israel zur Rechenschaft zu ziehen.

Genau diese Haltung bewege viele in der arabischen Welt dazu, dieses schreckliche Verbrechen zu leugnen oder die Zahl der Opfer zu relativieren. All dies aber, sagt Achcar, "schadet am Ende der Palästina-Frage".

Vielleicht deshalb haben die palästinensischen Spitzenpolitiker in einer von dem Dichter Mahmud Darwisch vorgetragenen Erklärung zum 50. Jahrestag der Gründung Israels betont:

"Wenn es unsere moralische Verantwortung ist, die jüdische Version über den Holocaust so zu akzeptieren, wie sie ist, ohne über die statistische Seite des Verbrechens zu diskutieren, so ist es auch unser Recht, die Söhne der Holocaust-Opfer aufzufordern, die palästinensischen Opfer und ihr Recht auf Leben und Unabhängigkeit anzuerkennen."

"Es gibt aber auch einen anderen Grund, den Holocaust zu leugnen", bemerkt Ulrike Freitag: "Nämlich, dass es in vielen arabischen Ländern nicht genug Informationen über den Holocaust gibt." Genau diese eklatante Informationslücke schließt die Studie von Gilbert Achcar. Man kann deshalb nur hoffen, dass das Buch eine große Verbreitung in allen arabischen Ländern findet.

Samir Grees

© Qantara.de 2010

Gilbert Achcar: "The Arabs and the Holocaust: The Arab-Israeli War of Narratives". Henry Holt Verlag, 2010.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

Qantara.de

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