Proteste als Karikaturen an sich

Die tunesische Literaturwissenschaftlerin Radscha Ben Slama warnt im Konflikt um die Propheten-Karikaturen vor überzogenen Reaktionen aus der islamischen Welt, die ein rigides Islambild vermitteln und der Religion schaden.

Von Radscha Ben Slama

​​Sind der islamische Gesandte und der Islam selbst durch die in einer dänischen Zeitung veröffentlichten Karikaturen wirklich so sehr von Verfall und Verschwinden bedroht, dass zu Recht überall Schreie der Bestürzung erklingen? Ist es berechtigt, dass die arabischen Regierungen ihre Botschafter abziehen, die muslimischen Rechtsgelehrten zum Boykott dänischer Produkte aufrufen und ehrwürdige islamische Einrichtungen öffentlichen Protest bekunden?

Kafkaeske Bitterkeit

Die Situation ist karikaturesk, mehr noch, als die Zeichnungen selbst. Die Karikatur nämlich, die der dänische Journalist schuf, ist ein Produkt künstlerischer Fantasie. Wohingegen das Verhalten der islamischen Völker, allen voran der arabischen, und deren Reaktion auf die Karikatur, eine bittere Realität ist - deren Bitterkeit geradezu kafkaesk ist und die einen zum Weinen und Lachen bringt. Es ist so, als würde ein Heer mit schweren und modernen Waffen ausgerüstet Jagd auf einen Moskito machen, "Allahu Akbar" rufen – in der Überzeugung, dass dieser Moskito ihren Ländern einen vernichtenden Schlag versetzen könne, indem er ihre Heiligtümer, ihre religiösen Überzeugungen und Gewissheiten verunglimpfe.

Radscha Ben Slama, Foto: privat
Radscha Ben Slama ist Professorin für arabische Literatur und lebt in Kairo.

Wer ist es denn, der dieser Religion, der seit 15 Jahrhunderten Tausende Millionen Menschen anhängen, ernstlichen Schaden zufügen kann? Der Zeichner der Karikaturen oder die pöbelhaften Reaktionen darauf, die eine Rückkehr von Gedankenpolizei und Inquisition fordern? Ist nicht die Forderung, die Journalisten wegen ihrer Meinungsäußerung vor Gericht zu stellen eine Form des geistigen Terrorismus? Täglich möchten wir der Welt beweisen, dass der Islam mit dem Terrorismus und dass die Terroristen, die überall unschuldige Menschen tyrannisieren, nichts mit dem Islam zu tun haben, dass der Islam eine Religion der Liebe und der Toleranz ist.

Umgekehrter Kreuzzug

Doch täglich erbringen wir aber den Beweis, dass der Islam, den wir uns wünschen und den wir verteidigen wollen, mit den Werten Andersgläubiger zusammenprallt, dass er sich auf einem umgekehrten Kreuzzug befindet, dass er sich der Engstirnigkeit und der theologischen Rigidität zu bewegt. Schadet der Zeichner wirklich dem Islam und den Muslimen? Hat sich die Anzahl der Muslime verkleinert und kehren sie gar der Religion Gottes in Scharen den Rücken, nachdem Salman Rushdie "Die Satanischen Verse" geschrieben hat? Oder ging der Islam in alter Zeit etwa zugrunde wegen der Schriften von Vertretern der als ketzerisch empfundener Neuerungen oder der Spottgedichte voll religiöser Zweifel, die Abu Nuwas, Omar Khayyam und al-Ma'arri verfassten?

Sollte es nicht Unglaube geben, wenn es Glaube gibt, damit die Gläubigen sich angesichts der Ungläubigen prüfen können? Was zudem überlassen die Gläubigen Gott, wenn sie sich vor dem Jüngsten Tag zu Richtern über die Welt machen? Und wenn sich die gläubigen Muslime an das Verbot halten, die Propheten und ihre Gefährten darzustellen, warum wollen sie dies den anderen Nationen auferlegen, die Jahrhunderte lang dem Klerus die Stirn boten, um eine echte Freiheit der Meinung und Gesinnung zu erwirken?

Wahn als Ausdruck der Angst

Es sind begründete Zweifel gegen die Gläubigkeit derer angebracht, die so bestürzt aufschreien – denn ein Muslim, der aufrichtig glaubt, kümmert sich nicht um die Haltung, die Andere gegenüber seinen Überzeugungen einnehmen. Der Wahn ist Ausdruck der Angst vor dem, was in der Realität eigentlich gar nicht beängstigend ist. Diejenigen, die sich derart empören, fürchten sich vor sich selbst, da sie nicht mehr fähig sind, ihren Glauben angesichts des Unglaubens zu prüfen. Sie sind nicht in der Lage, ihre Überzeugungen der Prüfung durch die Moderne auszusetzen, und deshalb flüchten sie sich in Hilferufe und spielen die Rolle des Opfers, um sich selbst von ihren unterdrückten Zweifeln zu befreien.

Etwas wird vergessen in den Schriften derer, die schreiend predigen: "Rettet den Islam", darunter einer, der die Gelegenheit ergriff und schrie: "Und rettet den Schleier", weil er glaubt, die Verschleierung sei die oberste islamische Pflicht. Geflissentlich zu vergessen pflegt man bei den Soldaten der arabischen Inquisitionsgerichte, die sich selbst zu den Intellektuellen und Publizisten zählen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, insbesondere Artikel 19, den wir mit belegter Stimme verlesen: "Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht umfasst die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhängen und Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten."

Das Problem der Gleichzeitigkeit

Vielleicht liegt das Problem darin, dass sich die Muslime zweierlei Zeiten zugehörig fühlen: der Zeit der Globalisierung, des Strebens nach materiellem Gewinn und der weltweiten Verkündung der Menschenrechte; zugleich aber der Zeit, in der nichtmuslimisches Gedankengut untersagt ist und die Muslime für den Abfall vom Glauben bestraft werden können. Wir wollen beides gleichzeitig: Wir wollen die Prinzipien der Demokratie (die Gerichtsbarkeit, die Nutzung diplomatischer Kanäle, die Anrufung der Vereinten Nationen etc.) dazu benutzen, die Menschheit in eine Zeit finsterer Theokratie zu ziehen (in der man mundtot gemacht wird, künstlerische Freiheit und freie Meinungsäußerung untersagt sind), um unser zivilisatorisches und geistiges Elend in die ganze Welt zu exportieren.

Die ehrwürdigen islamischen Einrichtungen, die heute gegen die Zeichnungen eines Journalisten aus Dänemark protestieren – müssten diese nicht zuallererst den Gläubigen zu Formen einer Religiosität verhelfen, die die modernen zivilisatorischen Errungenschaften anerkennt?

Fehlende Toleranz

Müssten sie nicht die Verurteilung wegen Apostasie außer Kraft setzen, weil der Koran selbst dies nicht bestimmt? Müssten sie sich nicht vielmehr bekennen zu den Prinzipien der Gerechtigkeit und Gleichheit für alle und zu echter Toleranz? Was ist das für eine Toleranz, in der wir den Anderen keinen Raum lassen, ihre Meinung zu äußern über das, was für uns unverbrüchliche Wahrheiten sind?

Der offizielle Wahn und der Volkswahn, der sich schnell ausbreitet, kennt keine Grenzen: Vielleicht werden wir eines Tages die Verurteilung Voltaires fordern, weil er die Religionen verspottete, oder die Verurteilung von Marx wegen seiner Überzeugung, Religion sei Opium fürs Volk oder Die Verurteilung Freuds, der in Gott einen Vaterersatz und in der Religion eine Illusion sah, oder Sartres, weil er den ketzerischen Existenzialismus begründete.

Vielleicht fordern wir von den Vereinten Nationen, den Artikel 19 aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu streichen und sich für die Prinzipien zu entschuldigen, die es jedem Journalisten oder Schriftsteller ermöglichen, sei es von weit oder von nah, eine Meinung zu äußern oder eine Karikatur zu zeichnen, die den Islam verunglimpft.

Radscha Ben Slama

Übersetzung aus dem Arabischen: Stefanie Gsell

© Radscha Ben Slama 2006