Straelen, das Mekka der Literaturübersetzer

Das Europäische Übersetzer-Kollegium in Straelen ist während seiner 25-jährigen Tätigkeit zum Mekka für professionelle Übersetzer geworden. Dagmar Giersberg hat das weltweit größte Arbeitszentrum für Literaturübersetzer besucht.

Das Europäische Übersetzer-Kollegium Nordrhein-Westfalen in Straelen, das Andrzej Szczypiorski bei einem Besuch im Jahre 1996 als "die menschlichste und wichtigste Merkwürdigkeit der gegenwärtigen europäischen Kultur" bezeichnete, ist während seiner 25-jährigen Tätigkeit zum Mekka für professionelle literarische Übersetzer geworden.

Übersetzer-Kollegium Straelen

​​Die Kleinstadt Straelen mit knapp 16.000 Einwohnern liegt nur wenige Kilometer von der Grenze zu den Niederlanden entfernt und ist der größte Umschlagsplatz für Blumen und Gemüse in Deutschland. Doch dass Straelen (spricht sich "Strahlen; das "e" ist ein Dehnungs-"e") mitten in einem der größten geschlossenen Gartenbaugebiete Europas liegt, ist nicht der Grund dafür, dass Literaturübersetzer aus aller Welt hierhin pilgern.

Seit nunmehr 25 Jahren zieht das Europäische Übersetzer-Kollegium (EÜK) in Straelen, das im Januar 1978 auf Initiative des Beckett-Übersetzers Elmar Tophoven und des damaligen Vorsitzenden des Verbands der literarischen Übersetzer, Klaus Birkenhauer, gegründet wurde, professionelle Literaturübersetzer an.

Ein Ort der Begegnung

Den Gründervätern des Kollegiums ging es darum, einen Ort der Begegnung zu schaffen, an dem sich literarische Übersetzer, die ja in der Regel einer recht einsamen Tätigkeit nachgehen, zu einem Erfahrungsaustausch zusammenfinden können. Vorbild für die Initiatoren war die mittelalterliche Übersetzerschule im spanischen Toledo, an der Übersetzer aus den verschiedenen Sprachräumen gemeinsam miteinander arbeiteten.

Heute ist das EÜK das weltweit größte Arbeitszentrum für Literaturübersetzer. Es ist in einem Ensemble von sechs alten Bürgerhäusern untergebracht; neben Bibliotheks- und Tagungsräumen stehen 30 Appartements zur Verfügung sowie Gemeinschaftsküchen für die Selbstverpflegung der Gäste.

Arbeiten und wohnen können hier professionelle Literatur-Übersetzer, die mindestens zwei umfangreiche Übersetzungen publiziert haben und die mit einem abgeschlossenen Verlagsvertrag an einem konkreten Projekt arbeiten.

Pro Jahr genießen inzwischen über 750 Gäste die Atmosphäre und die Arbeitsbedingungen im Hause. Übersetzer aus über 50 Ländern – von Ägypten bis Lettland, von Neuseeland bis Zaire – nutzen die attraktiven Angebote in der niederrheinischen Stadt.

Ein Ort für alle Fragen

Im Kollegium stehen den deutschen und ausländischen Gästen 30 Computerarbeitsplätze zur Verfügung. Ins Schwärmen geraten die Übersetzer jedoch vor allem, wenn es um die Spezialbibliothek im EÜK geht.

Mit 110.000 Bänden bietet diese Bibliothek rund um die Uhr alles, was das Übersetzer-Herz begehrt. 25.000 Nachschlagewerke in über 275 Sprachen und Dialekten – von Afrikaans bis Zulu – stehen in den Regalen. Ein- und mehrsprachige Enzyklopädien und Allgemeinwörterbücher gehören ebenso dazu wie eine Vielzahl fachterminologischer Nachschlagewerke. Daneben finden sich 60.000 Bände mit literarischen Werken der Weltliteratur (Originale und Übersetzungen) sowie 25.000 Sachbücher.

Hier stehen Antworten auf Fragen, die den Literaturübersetzer im häuslichen Arbeitszimmer bisweilen verzweifeln lassen: "Was ist ein Rommelspargel?" oder "Wo liegt die Insel der Großen Mutter?"

Ein Ort für Aktivitäten

Mehr als 15.000 Übersetzungen sind in Straelen entstanden: Hegels "Phänomenologie des Geistes" wurde hier ins Koreanische übertragen, Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" ins Hebräische, Michael Endes "Momo" ins Estnische. Prousts "Les plaisirs et les jours" fanden hier den Weg ins Dänische, Shakespeares Sonette und Philip Roths "Sabbaths Theater" ins Deutsche. Im Frühjahr 2002 wurde Grass' "Im Krebsgang" hier ins Finnische, Russische, Lettische, Bulgarische und Litauische übersetzt.

Doch damit nicht genug: In Straelen finden zahlreiche Seminare und Fortbildungen für Übersetzer statt. Hier wird der mit 25.000 € dotierte Übersetzerpreis der Kunststiftung Nordrhein-Westfalen verliehen. Seit 2002 fördert diese Stiftung mit dem Modell des "Translators in Residence" darüber hinaus die Anwesenheit von je einem Übersetzer im EÜK, der mit Hilfe von Lesungen, Vorträgen und Workshops Einblicke in die Arbeit eines Literaturübersetzers gibt.

In der Festschrift zum 25-jährigen Bestehen, die den Titel "Warum ich so oft nach Straelen fahre?" trägt, finden sich elegische Beschreibungen der Atmosphäre an diesem Ort. Oili Suominen aus Finnland kommt zu dem Schluss: "Die Frage ist eigentlich falsch gestellt. Die richtige Frage lautet: Warum fahren nicht alle Übersetzer jedes Jahr nach Straelen?"

Dagmar Giersberg

© 2003 Goethe-Institut

Europäisches Übersetzer-Kollegium
Stadt Straelen