Das Elend der arabischen Welt

Im Kampf gegen den "Islamischen Staat" muss der Westen die bedrängten Rebellen unterstützen. Die arabischen Freiheitskämpfer sind trotz all ihrer Schwächen das glaubwürdigste Bollwerk gegen den mörderischen Wahn der Islamfaschisten. Ein Kommentar von Markus Bickel

Von Markus Bickel

Arabiens sunnitische Religionsführer sind der Herausforderung des "Islamischen Staates" nicht gewachsen. Als "zionistische Verschwörung" zur Zerschlagung der arabischen Welt bezeichnete unlängst der Großscheich der Al-Azhar-Moschee in Kairo absurderweise die Terrorgruppe, die auf ihrem Vernichtungsfeldzug vor keiner Minderheit haltmacht und neben amerikanischen und britischen Staatsbürgern auch einen Israeli enthauptet hat. Der Großmufti von Saudi-Arabien sieht in ihr den "Feind Nummer eins des Islams" - obwohl Christen und Jesiden von den mordenden "Gotteskriegern" ebenso bedroht werden wie Schiiten und sunnitische "Abweichler".

Diese Selbstbezogenheit ist nicht neu; der sunnitische Islam steckt in einer tiefen Identitätskrise. Dass der wichtigsten sunnitischen Lehrinstanz und den Hütern der heiligen Stätten von Mekka und Medina außer leeren Formeln und kruden Verschwörungstheorien nichts zur Zurückdrängung der Dschihadisten einfällt, ist symptomatisch: Gut tausend Tage sind seit dem Aufbegehren von Ägyptern, Syrern, Libyern, Tunesiern, Bahreinern und Jemeniten vergangen - und doch kommt es einem so vor, als liege die Frühphase der Arabellion Jahrzehnte zurück. Das liegt nicht an den Aufständischen, sondern an den autoritären Herrschern, welche die Uhr auf null zurückgestellt haben. Die obersten sunnitischen Gelehrten segnen deren Vorgehen ab; als moralisches Korrektiv fallen sie aus.

Nicht auf die religiösen, sondern auf laizistische Kräfte kommt es deshalb an, um den Krieg in den Köpfen gegen die militanten Islamisten zu gewinnen. In Syrien, wo der "Islamische Staat" 2013 zur stärksten Miliz aufstieg, waren es von Beginn an Leute aus der bedrängten Zivilgesellschaft, die den Dschihadisten entschieden entgegentraten. Dass die Aufständischen dem Terror des Regimes Assads und dem der Islamisten gleichermaßen ausgesetzt sind, zeigt, wie sehr beide Seiten sie fürchten. Der Opposition politisch und militärisch beizustehen wird den "Islamischen Staat" schwächen; deren Kampf um Bürger- und Menschenrechte muss deshalb auch das Anliegen des Westens sein.

Saudi-Arabiens Großmufti Abd al Aziz Al Sheikh (Mitte) in Riad; Foto: AFP/Getty Images/H. Ammar
Saudi-Arabiens Großmufti, Abd al-Aziz bin Abdullah Al asch-Schaisch, erklärte den IS zum „Feind Nummer eins des Islam“, schreibt Markus Bickel. Christen und Jesiden seien ebenso von den modernen „Gotteskriegern“ bedroht wie schiitische und sunnitische „Abweichler“.

Eingreifen säkularer Truppen

Das gilt gleichermaßen in Libyen und Ägypten, wo Journalisten, Demokratieaktivisten und Arbeiterführer den Militärs, Geheimdienstlern und reaktionären Predigern ebenfalls ein Dorn im Auge sind. Die Kräfte des Wandels verdienen unseren Rückhalt, nicht die Regime und ihre religiösen Sprachrohre, die jene unterdrücken. Sanktionen wie das Einbehalten von Entwicklungshilfe bei Verletzung von Grundrechten wären Schritte in diese Richtung.

Denn der Aufstieg des "Islamischen Staates" ist Ausdruck des Elends der arabischen Welt; ein unbeschränkter "Krieg gegen den Terror" wäre Wasser auf die Mühlen von Ägyptens Präsident Sisi, Saudi-Arabiens König Abdullah und Syriens Assad. Mit Verweis auf die Verbrechen der Dschihadisten kann die Koalition der Konterrevolutionäre stets neue Unterdrückungswellen rechtfertigen - und den Massen weismachen, die "Gotteskrieger" seien Fremdkörper in einem ansonsten intakten islamischen Gemeinwesen.

Dabei sind es keine Eindringlinge von außen, sondern mehrheitlich arabische Sunniten, die sich den Terroristen angeschlossen haben. Auf Sympathie stoßen sie von Marrakesch bis Manama. Der "Islamische Staat" konnte nur deshalb so wachsen, weil all die Gründe, die zur Arabellion führten, weiterbestehen: Korruption, Intransparenz, Dysfunktionalität und Missachtung von Menschenrechten kennzeichnen weiterhin die arabischen Regime. Da die Repression unter Sisi abermals zur Staatsdoktrin erhoben worden ist, wächst in Ägyptens Gefängnissen schon die nächste Generation von Dschihadisten heran.Bollwerk gegen den Wahn der Islamfaschisten

US-Präsident Barack Obama auf der 69. Generalversammlung der Vereinten Nationen am 24. September 2014; Foto; Getty Imgaes/A. Burton
Auf der UN-Generalversammlung betonte Präsident Obama, dass es Zeit sei die „Korruption junger Menschen durch eine gewaltbereite Ideologie“ zu stoppen. Dies bedeute, sagte er, die „Anfechtung des Raumes, den die Terroristen besetzten, einschließlich des Internets und der sozialen Medien. Ihre Propaganda nötigt junge Menschen ins Ausland zu reisen und Kriege zu führen. Somit werden aus Studenten – jungen Menschen mit Potenzial – in Selbstmordattentäter. Wir müssen ihnen eine Alternative bieten“.

Das ist deshalb so tragisch, weil die arabischen Freiheitskämpfer trotz all ihrer Schwächen das glaubwürdigste Bollwerk gegen den mörderischen Wahn der Islamfaschisten bilden. Sicherlich: Die Muslimbrüder gingen in Ägypten als Sieger aus der Revolution hervor, auch in Tunesien und Libyen gewannen Vertreter des politischen Islams die Oberhand. Doch viele liefen zu den militanten Kräften erst nach den Massakern über, zu denen es während des Putsches gegen Muhammad Mursis Islamisten kam. Seitdem brennt die Region, von Libyen im Westen über Syrien und den Irak bis zum Jemen im Südosten.

Am Kampf für Menschen- und Bürgerrechte führt kein Weg vorbei, will sich die arabische Welt vom Elend des Dschihadismus befreien. Bis zu deren Durchsetzung mag noch eine Generation vergehen, wenn nicht länger, und dennoch gibt es dazu keine Alternative. Jeder Antiterrorkampf sei zum Scheitern verurteilt, hat der amerikanische Präsident Obama vor den Vereinten Nationen gesagt, wenn jungen Leuten keine Angebote jenseits der Vorgaben eines autoritären Staates oder der Verheißungen eines extremistischen Untergrunds gemacht würden. Die freie Welt muss jene Kräfte unterstützen, die sich dem "Islamischen Staat" entgegenstellen und die es dennoch nicht akzeptieren, dass der "Kampf gegen den Terror" für die innenpolitischen Zwecke autoritärer Regime missbraucht wird.

Markus Bickel

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2014