"Schiiten halten zu den Schwächeren"

Maysam Behravesh vom "Center for Middle East Research" erläutert im Gespräch mit Hans Dembowski das gegenwärtige Machtgefüge der Islamischen Republik, die Rolle des schiitischen Klerus im Iran und den außenpolitischen Kurswechsel unter Präsident Rohani.

Von Hans Dembowski

Der Iran hat kürzlich das Atomabkommen mit den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats und Deutschland abgeschlossen. Welche politischen Kräfte innerhalb des iranischen Regimes haben sich hierbei durchsetzen können?

Maysam Behravesh: Viele Kommentatoren führen den Verhandlungserfolg auf die Wirtschaftssanktionen zurück. Und das ist nicht auszuschließen, weil diese das ganze Land wirklich getroffen haben. Ich denke aber, dass der Machtwechsel von den Hardlinern zu den moderaten Kräften entscheidend war, nachdem Hassan Rohani 2013 zum Präsident gewählt wurde. Die Hardliner hatten an einer Öffnung kein großes Interesse; ihre Stärke beruht nach wie vor auf rigiden, anti-westlichen Positionen. Die Moderaten dagegen suchen schon lange die Annäherung an den Westen. Rohanis Haltung ist ähnlich wie die Mohammed Khatamis, der von 1997 bis 2005 iranischer Präsident war.

Doch Khatami war nicht erfolgreich…

Behravesh: Das lag an der Führung in Washington, denn US-Präsident George W. Bush wollte mit ihm nicht zusammenarbeiten. Er sprach lieber von der "Achse des Bösen", zu der er neben Iran auch Nordkorea und Irak zählte. Das Absurde daran war, dass Khatamis Regierung die US-Intervention gegen die Taliban in Afghanistan nach dem 11. September 2001 unterstützte. Teheran hatte in Afghanistan der Nordallianz geholfen, die damals noch gegen die Taliban standhielt. Die Taliban hatten 1998 mehrere iranische Diplomaten sowie einen Journalisten entführt und getötet, woraufhin Iran 70.000 Soldaten an die Grenze schickte und beinahe in Afghanistan einmarschiert wäre.

Nach den Terroranschlägen auf New York und Washington sah Khatami dann gemeinsame Interessen mit den USA. Aber Bush hielt an seiner "Achse des Bösen" fest. Die Iraner fanden das sehr enttäuschend. Sie erinnerten sich noch gut an den langen, blutigen Krieg, den der irakische Diktator Saddam Hussein, mit Unterstützung aus Washington und anderen westlichen Hauptstädten, in den 1980er Jahren gegen sie geführt hatte. Ihnen war ebenso klar, dass die Taliban in Afghanistan ursprünglich von den USA und deren Verbündeten wie Saudi-Arabien gefördert worden waren. Bush ließ Khatami systematisch auflaufen. Und das diskreditierte dessen reformorientierte Außenpolitik in den Augen iranischer Entscheidungsträger. 2005 gewann dann der Hardliner Mahmud Ahmadinedschad die Präsidentschaftswahlen.

Welche politischen Fraktionen gibt es im iranischen Machtgefüge?

Behravesh: Es handelt sich um keinen monolithischen Block, jedoch lassen sich innerhalb des Regimes auch keine klar markierten Fraktionen ausmachen. Es existieren mehrere Lager: Hardliner, Moderate, Reformer, traditionelle Konservative. Es gibt verschiedene Führungspersönlichkeiten und die Allianzen und Loyalitäten sind fließend, wobei auch neue Gruppen auftauchen und alte sich auflösen. Diese Lager stehen etwa dem Militär nahe oder den Revolutionsgarden oder bestimmten Wirtschaftskreisen.

Revolutionsführere Ali Khamenei in Teheran; Foto: Khamenei.ir
Unversöhnlich gegenüber dem "großen Satan" USA: Irans oberster Führer will den USA trotz der jüngsten Einigung auf ein Atomabkommen jeden weitergehenden Einfluss auf den islamischen Gottesstaat verwehren. Ajatollah Ali Khamenei sagte kürzlich, alle Wege für politische und wirtschaftliche Einwirkungen der USA seien fest blockiert. Khamenei hat laut Verfassung das letzte Wort in strategischen Belangen.

Aber hat nicht Ajatollah Ali Khamenei als "Oberster Führer" stets das letzte Wort?

Behravesh: Theoretisch schon, aber in der Praxis ist seine Stimme nur eine von mehreren. Seine Position ist natürlich sehr wichtig, aber er entscheidet nicht allein. Das ist zum Beispiel daran zu erkennen, dass die Nuklearverhandlungen unter Ahmadinedschad nicht vorankamen, Rohanis Team jedoch innerhalb von zwei Jahren ein Abkommen erzielte. Die Politik hat also deutlich die Richtung gewechselt, obwohl Khamenei in der gesamten Zeitspanne der Oberste Führer war.

Aber kurz nach dem Abkommen sprach Khamenei schon wieder von der Feindschaft gegenüber den USA und betonte die Loyalität Irans zu regionalen Verbündeten wie der Hamas, der Hisbollah, dem Assad-Regime oder den Huthis im Jemen.

Behravesh: Ja, aber seine Worte sollten auch nicht überbewertet werden. Einerseits wollte Khamenei damit seine Hardliner zuhause beruhigen. Andererseits richtete er sich mit diesem Statement an die regionalen Verbündeten. In der Praxis entspricht das Regierungshandeln nicht exakt den Worten des Obersten Führers.

Der schiitische Klerus im Iran gilt als gut organisiert. Verfügt die Geistlichkeit auch über einen weltweiten Spitzenkleriker?

Behravesh: Nein, die höchste religiöse Autorität genießen die Groß-Ajatollahs, von denen es mehrere gibt. Grundsätzlich sollen die Schiiten ihrem Beispiel folgen. Rohani und Khatami sind dagegen Kleriker mittleren Rangs. Sie verfügen nur über eine gewisse religiöse Autorität, die nicht der Autorität der Ajatollahs entspricht.

Gibt es Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ajatollahs?

Behravesh: Ja, Ajatollah Hussein Ali Montazeri war beispielsweise in vielerlei Hinsicht toleranter als Ajatollah Ali Khamenei. Er sollte eigentlich der Nachfolger von Ajatollah Ruhollah Khomeini werden, der die Revolution angeleitet hatte und dann Oberster Führer wurde. Montazeri wurde aber beiseite gedrängt. Manchmal wurde er "Vater der iranischen Menschenrechte" genannt. Religiöse Differenzen zwischen den Ajatollahs werden meist dann bekannt, wenn sie politische Konsequenzen haben – etwa in Bezug auf Frauenrechte und Genderbeziehungen. Dinge verändern sich und Religionsführer müssen sich der Zeit anpassen. In großen iranischen Städten leben immer mehr Paare unverheiratet zusammen. Einige Kleriker sprechen sich vehement gegen diesen Trend aus, andere sind toleranter.

Sollten westliche Länder nicht wegen der Menschenrechtsverstöße auf Distanz bleiben?

Großayatollah Ali Montazeri; Foto: Getty Images
Unerwünschter Reformer: Großayatollah Montazeri war einst als Nachfolger Khomeinis vorgesehen, doch kurz vor dessen Tod wurde er wegen seiner Kritik an den massiven Menschenrechtsverletzungen des Regimes abgesetzt. Großayatollah Montazeri galt lange als geistige Autorität der "Grünen Bewegung" im Iran. Er starb im Dezember 2009 in Ghom.

Behravesh: Die Lage ist doch in Saudi-Arabien nicht besser und sie war auch unter dem Schah kaum anders. Westliche Regierungen sind mit vielen despotischen Regimen verbündet.

Zurück zu den Ajatollahs: Stimmen die schiitischen Spitzenkleriker aus anderen Ländern mit denen im Iran überein?

Behravesh: Es ist gegenwärtig eine gewisse Konkurrenz zwischen allen muslimischen Führungspersönlichkeiten weltweit zu spüren. Und selbstverständlich müssen alle die Verhältnisse in ihren jeweiligen Ländern berücksichtigen. Daher ist es kein Zufall, dass der wichtigste schiitische Religionsgelehrte im Irak, Ajatollah Ali al-Sistani, viel versöhnlicher klingt, was das friedliche Zusammenleben mit Sunniten angeht. Im Gegensatz zum Iran droht sein Land vom schiitisch-sunnitischen Schisma zerrissen zu werden.

Es gibt also keine geschlossene schiitische Front gegen die Sunniten?

Behravesh: Aus meiner Sicht ist es analytisch verkehrt und politisch wenig hilfreich, die Konflikte in der Region allein auf konfessionelle Differenzen zu reduzieren. Den Schiiten ist jedoch bewusst, dass mit Extremisten wie dem IS Frieden kaum möglich ist. Solche Gruppen sagen doch, dass Schiiten keine echten Muslime sind und bekämpft werden sollen. Sie greifen die Schiiten ständig an. Dass ihr Weltbild auf dem Wahhabismus aufbaut, der sunnitisch-fundamentalistischen Doktrin Saudi-Arabiens, erschwert die Lage. Diese Kräfte stehen dem Iran, der Hochburg der Schiiten, feindlich gegenüber.

Schiitische Milizen im Kampf gegen den IS im Irak; Foto: picture-alliance/dpa
Die USA und der Iran als informelle Verbündete im Kampf gegen den IS: Durch den Aufstieg des Iran verliert Saudi-Arabien jedoch an Einfluss, und zwar nicht nur in der Region selbst, sondern auch bei der Schutzmacht USA. Jahrzehntelang war die Führung in Washington abhängig vom Öl der saudischen Scheichs und brauchte die Herrscher in Riad zugleich als Gegengewicht zum Erzfeind Iran. Doch das Bündnis scheint bereits seit einiger Zeit zu bröckeln, im Kampf gegen den Islamismus zogen die USA und das einem streng konservativen Islam verhaftete Königreich nicht immer an einem Strang.

Der Iran und die USA sind im Kampf gegen den IS im Irak informelle Verbündete geworden. Manchen westlichen Beobachtern behagt das nicht, weil der Iran auch Hamas und Hisbollah unterstützt, die ebenfalls als terroristisch gelten.

Behravesh: Aus Teheraner Sicht geht es nicht nur um Ideologie, sondern auch im Real- und Sicherheitspolitik. Der Iran kann nicht so massiv in konventionelle Streitkräfte wie Saudi-Arabien und andere Mitglieder des Golfkooperationsrats investieren. Deshalb gilt die Unterstützung für Hamas und Hisbollah oder auch für die Huthis als Teil ihrer Verteidigungspolitik.

Aber ist die Feindseligkeit gegenüber Israel nicht besorgniserregend?

Behravesh: Auch das muss im richtigen Kontext gesehen werden. Seit drei Jahrzehnten pflegt das iranische Regime Feindseligkeit gegenüber den USA und Israel – nicht zuletzt, weil beide Länder mit dem Schah verbündet waren. Israels Geheimdienst Mossad hat eng mit dem SAVAK, dem Staatssicherheitsdienst des Schahs, kooperiert. Die Repressionen waren brutal, viele Schah-Gegner wurden damals getötet. Und zahlreiche Mitglieder der derzeitigen politischen Elite im Iran saßen unter dem Schah im Gefängnis. Viele sind in jener Zeit gefoltert worden. Und weil die Beziehungen zu den USA jetzt besser werden, gewinnt die Anti-Israel-Haltung an Bedeutung.

Wie hängt das zusammen?

Behravesh: Erstens ist diese Haltung für das Regime politisch vorteilhaft, weil damit der revolutionäre Anspruch unterstrichen wird und es in innenpolitischer Hinsicht hilfreich erscheint, Feinde im Ausland zu haben. Zweitens gibt es einen weltanschaulichen Nutzen, denn die Schiiten sind historisch immer in der Minderheit gewesen und sie neigen dazu, Minderheiten zu unterstützen, was auch die Islamische Republik jetzt tut. Die Palästinenser werden als schutzbedürftige Minderheit gesehen. Das hat wiederum einen politisch-psychologischen Nutzen, denn der Iran gibt sich mit Verweis darauf, dass arabische Länder die Palästinenser im Stich lassen, als muslimische Führungskraft. Paradox ist hierbei allerdings, dass die Palästinenser ja schon seit Langem Frieden mit Israel wollen, so dass die iranische Position oft aggressiver erscheint als die palästinensische.

Das Interview führte Hans Dembowski.

© Zeitschrift für Entwicklung und Zusammenarbeit 2015

Der Autor gehört zu den Gründern des "Center for Middle East Research" (CMER) in London und dem "Tehran Bureau", einem Autorenteam, das vor allem für die britische Tageszeitung "The Guardian" veröffentlicht.