Glaubenskrise aus dem Nichts

Der ägyptische Film "Sheikh Jackson" handelt von einem jungen Imam in Kairo, der nach dem Tod von Michael Jackson sein ganzes Leben in Frage stellt. Schayan Riaz hat den Film gesehen.

Von Schayan Riaz

Ein wesentlicher Bestandteil vieler Religionen ist das Weinen. So auch im Islam. Wenn beispielsweise die Tränen eines Imams fließen, während er ein Gebet verrichtet, dann gilt es als aufrichtigstes Glaubensbekenntnis schlechthin. Doch was passiert, wenn ein religiöser Gelehrter gar nicht mehr in der Lage ist, zu weinen? Dieser spannenden Frage geht der Film "Sheikh Jackson" nach. Nicht ohne Grund fällt irgendwann der Satz "Wer aus Gottesfurcht weint, dem bleibt das Höllenfeuer erspart". Doch Regisseur und Drehbuchautor Amr Salama stellt diesen Punkt von Anfang an auf den Kopf.

Khaled (Ahmad Alfishawy) ist ein junger Imam aus Kairo, der nicht immer gläubig war. In Alexandria hatte er als Jugendlicher den Popstar Michael Jackson verehrt. Er trug dieselbe Frisur und Kleidung wie die seines größten Idols und lernte alle Lieder und Tanzschritte auswendig. Wenn Khaleds strenger Vater ihm Geld für den Nachhilfeunterricht gab, dann kaufte er sich damit die neuesten Alben des "King of Pop". Wohlgemerkt: nicht die billigen Raubkopien, sondern immer nur original importierte und somit die teurere Ware.

In der Gegenwart ist alles anders. Wenn seine rebellische Tochter heimlich Musikvideos von Beyoncé schaut, dann reißt Khaled das Internetkabel aus der Buchse. Zu seiner Ehefrau (Amina Khalil) sagt er: "Ich liebe Dich, weil ich weiß, dass Du Allah mehr liebst, als Du mich liebst." Und er hat sich ein spezielles Armband besorgt, mit dem er alle guten und schlechten Taten markieren kann. Bei positiven Aktionen wird der grüne Knopf betätigt, ansonsten nur der rote Knopf.

Der Tod als Katalysator

Khaleds frommes und friedliches Leben könnte also aus seiner Sicht nicht besser laufen. Bis Michael Jackson stirbt. Nachdem ihn diese Nachricht erreicht, gerät Khaleds Welt komplett aus den Fugen. Er stürzt sich in eine tiefe Identitätskrise und wird von einer komplexen Vergangenheit konfrontiert. Seine Lebenslust wird durch eine vollkommene Emotionslosigkeit ersetzt – wie vorerwähnt kann er jetzt nicht mehr weinen, sucht sogar einen Therapeuten auf. Er vergisst beim Vorbeten die richtige Reihenfolge einiger Verse und die Gemeinde wendet sich langsam von ihm ab.

Schließlich fängt er auch noch an zu halluzinieren: in einer brillanten Szene führt Michael Jackson (von Carlo Riley verkörpert) höchstpersönlich durch das Gebet und alle fangen an, wie die Zombies aus "Thriller" zu tanzen. Das lenkt Khaled vom rezitieren des Gebets ab. In solchen Sequenzen wird eine faszinierende Parallele zwischen Religiosität und dem Fan-Sein aufgeschlagen, die ohne Zweifel zwei Seiten derselben Medaille sind. Was sind schließlich große Konzerte, wenn nicht irgendwie auch Massenanbetungen?

Das Drehbuch ist auch sonst mit Symbolik vollgepackt. Khaled schläft stets unterm Bett, damit er sich auf sein ewig bevorstehendes Grab vorbereiten kann. Immer wenn er von schlechten Träumen geplagt wird, wacht er auf und knallt mit dem Kopf gegen das Lattenrost. Hier wird ein sehr poetisches Bild gezeichnet – und die Enge, die Khaled dabei spürt, ist in gewisser Weise auch die Essenz seiner zwiespältigen Person. Salama scheint zu suggerieren, dass alle Ängste und Sorgen selbstverschuldet sind. Er ist sein eigenes Monster unterm Bett. Nicht der Teufel. Und schon gar nicht Michael Jackson. 

Was ein Mann ist

In Rückblenden sehen wir den heranwachsenden Khaled (Ahmed Malek), wie er sich gegen den autoritären Vater aufstellt. Er ist zwar ein empfindlicher junger Mann, doch er lässt sich nichts reinreden. Für den Vater (Maged El Kedwany spielt ihn mit einer eindrucksvollen Wucht) verkörpert eine Ikone wie Michael Jackson alles, wofür er nicht stehen will. "Er ist weder Mann, noch Frau. Irgendwas dazwischen."

Filmszene aus "Sheikh Jackson"
„Sheikh Jackson“ ist eine faszinierende Charakterstudie. Allen voran steht der Gedanke, dass auch religiöse Gelehrte nur Menschen aus Fleisch und Blut sind und ihre eigene Entwicklung durchleben.

Auch hier finden sich Parallelen, also zwischen Khaleds natürlicher Entwicklung zum Super-Fan und dem Leben eines Künstlers, der sich nicht verstellt, der sich nicht versteckt, der sich tagein und tagaus auf der Bühne der ganzen Welt ausliefert. Kein Wunder, dass Khaled als Erwachsener diese Verbindung nicht mehr abschütteln kann.

"Sheikh Jackson" ist eine faszinierende Charakterstudie. Allen voran steht der Gedanke, dass auch religiöse Gelehrte nur Menschen aus Fleisch und Blut sind und ihre eigene Entwicklung durchleben. Salama wertet zu keinem Zeitpunkt, sondern zeigt alle Figuren so authentisch wie möglich, mit allen Fehlern und Macken. Khaled ist eine dreidimensionale, gerundete Persönlichkeit, die in anderen Filmen nicht so eingehend geschrieben wäre. Der frische Blick tut der Handlung gut. Aus dieser stillen Beobachtung entfaltet sich die ungemeine und unprätentiöse Stärke des Films.

Der einzige Kritikpunkt an diesem rundum gelungenen Film ist der Mangel an authentischer Musik. Gut, "Sheikh Jackson" ist ja auch kein Biopic des Popstars, es geht vielmehr um die Menschen, die ihn anbeten. Trotzdem vermisst man seine eigentlichen Lieder, die für alles ein Auslöser sind.

Aufgrund von nicht vorhandenen Lizenzrechten lässt Salama seine Charaktere populäre Lieder wie "Beat It" lautlos mit den Lippen formen. An einem Punkt gibt Khaled den Inhalt von "Stranger in Moscow" wieder und beschreibt das dazugehörige Musikvideo, ohne das man es hören oder sehen kann. In diesen Momenten fühlt sich der Film ein wenig ungeschickt an. Doch in der Gesamtheit betrachtet kann man über diese minimalen Mängel hinwegschauen. "Sheikh Jackson" trifft sonst alle wichtigen Töne.

Schayan Riaz

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