"Wir sind alle Mouhcine Fikri!"

Der Fall eines tragisch zu Tode gekommenen Fischhändlers steht symptomatisch für die weit verbreitete Armut innerhalb der marokkanischen Gesellschaft. Die Wut ist groß. Das Königshaus versucht daher mit allen Mitteln, die Unruhen im Zaum zu halten, um einen zweiten Arabischen Frühling zu verhindern. Aus Rabat informiert Matthew Greene.

Von Matthew Greene

Die Proteste nach dem Tod des Fischhändlers Mouhcine Fikri am 28. Oktober hielten Marokko rund zwei Wochen lang in Atem. Es waren die bislang umfangreichsten Demonstrationen, die Marokko seit dem Arabischen Frühling 2011 erlebt hatte, als die "Bewegung des 20. Februar" zu Massendemonstrationen für demokratische Reformen aufgerufen hatte.

Als Antwort auf den Tod des Fischhändlers in der nördlichen Hafenstadt Hoceima gingen auch am 10. November wieder Tausende Demonstranten auf die Straße, um gegen die grassierende soziale Ungerechtigkeit in Marokko zu protestieren. In den sozialen Medien waren Liveaufnahmen von der Kundgebung in Hoceima zur Erinnerung an den Tod des 31-jährigen "Märtyrers" Mouhcine Fikri zu sehen. Die Demonstranten, unter ihnen viele Jugendliche, trugen eine Kerze oder eine Blume in der Hand.

Fikri war in Hoceima in der Presse eines Müllwagens zerquetscht worden. Elf Verdächtige, darunter Behörden- und Ministeriumsmitarbeiter, wurden bislang festgenommen - unter anderem wegen fahrlässiger Tötung. Die Veranstalter der Proteste fordern insbesondere Aufklärung darüber, wer die Müllpresse in Gang setzte. Fotos und Filme des grausamen Ereignisses, die von Zuschauern mit Mobiltelefonen aufgenommen wurden, hatten sich daraufhin schnell über soziale Medien wie Facebook und Twitter verbreitet und eine Flut wütender Reaktionen ausgelöst.

Aufgrund der massiven Demonstrationen, die sich anschließend über das ganze Land verbreiteten, sah sich der sogenannte "Makhzen" (das politische Netzwerk der königstreuen Elite) rasch dazu veranlasst, die Wogen zu glätten, um der Protestbewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die marokkanischen Behörden stuften den Todesfall als fahrlässige Tötung ein und versprachen, die Verantwortlichen juristisch zur Rechenschaft ziehen zu wollen.

Alles Lüge?

Bereits wenige Tage vor der Veröffentlichung dieser Erklärung war Fikris Familie vom Innenminister ein Beileidsschreiben des marokkanischen Königs Mohammed VI. übermittelt worden. Das Ministerium versprach der Familie, gegen die Verantwortlichen mit aller Härte des Gesetzes vorzugehen. Dies blieb nicht ohne Folgen: Einige Familienmitglieder Fikris äußerten inzwischen den Wunsch, den Tod ihres Verwandten nicht politisch zu missbrauchen. Während seines Auftritts im marokkanischen Staatsfernsehen behauptete Fikris Bruder gar, die sozialen Medien versuchten in diesem Fall massiv "politisch zu manipulieren". Manche politische Beobachter gehen davon aus, Fikris Bruder habe sich nur aufgrund des politischen Drucks durch hohe Beamte auf seine Familie zu dieser Aussage hinreißen lassen.

Soziale Proteste in Hoceima; Foto: AFP
Explosion aus Wut und Protest: Zwei Wochen nach dem grausamen Tod eines Fischverkäufers in einem Müllwagen in Marokko kam es im Norden des Landes abermals zu Protesten von Tausenden Demonstranten gegen soziale Ungerechtigkeit. Zu sehen waren Porträts des Opfers und Berber-Fahnen der Rif-Republik, die zwischen 1923 und 1926 bestand, bevor sie von den Besatzungsmächten Spanien und Frankreich gewaltsam aufgelöst wurde. Der Protest richtete sich gegen "Korruption" und die "Missachtung der einfachen Bürger durch die Behörden".

Marokkos Monarchie versucht um jeden Preis, die Protestwelle in den Griff zu bekommen, damit diese nicht das Ausmaß der Unruhen von 2011 erreichen. Die Proteste hatten damals den König zu Verfassungsreformen veranlasst, einen Teil seiner absoluten Macht musste der an eine gewählte Regierung abtreten. Mohammed VI. betrachtet sich selbst als Garant für eine stabile politische Ordnung in einem unsicheren geopolitischen Umfeld – als Regent, der für wirtschaftliche Reformen bürgt und für sozialen Frieden sorgt. So zumindest sein Selbstverständnis.

Unvermeidliche Politisierung

Jetzt, wo viele Marokkaner ihre Wut und ihre Frustration auch auf das Fehlverhalten der Polizei und die Korruption auf höchster staatlicher Ebene ausdehnen, ist es zu spät, die zunehmende Politisierung von Fikris Tod ungeschehen zu machen. Einige lokale Medienvertreter betrachten den tragischen Vorfall als verstörendes Symbol für die Armut und Unterdrückung, gegen die zehntausende Marokkaner Tag für Tag ankämpfen.

Zweifelsohne weist Fikris Tod auch Parallelen zum Fall Mohamed Bouazizi auf, dem tunesischen Straßenverkäufer, der sich nach einem ähnlichen Streit mit der Polizei selbst tötete - ein entscheidender Auslöser für die Proteste des Arabischen Frühlings. Berichten zufolge bezogen sich zahllose Demonstranten in Hoceima auf Bouazizis Heimatstadt, indem sie sangen: "Sidi Bouzid ist nicht weit von hier."

Wie 2011 in Tunesien traf Fikris Tod den Nerv insbesondere der jüngeren Bevölkerung, die von Arbeitslosigkeit, stagnierenden Löhnen sowie finanzieller Ungleichheit betroffen ist und die nun ihrem Missfallen über staatliche Korruption und Vetternwirtschaft freien Lauf ließ. Westliche Journalisten nehmen die politische Situation in Marokko seit dem Ausbruch der jüngsten Unruhen genauer unter die Lupe, um einschätzen zu können, ob aufgrund der Vergleichbarkeit der Umstände zwischen den Todesfällen von Bouazizi und Fikri womöglich eine ähnliche Bewegung wie die im Rahmen des Arabischen Frühlings zustande kommen könnte.

In einem kürzlich geführten Interview mit dem amerikanischen Radiosender "Democracy Now" meinte die marokkanische Anthropologin Miriyam Aouragh, die meist von Jugendlichen ausgehenden Demonstrationen stellten teilweise eine "fortgesetzte Explosion aus Wut und Protesten des Jahres 2011" dar. Bereits in den vergangenen fünf Jahren war es in Marokko immer wieder zu Protesten gegen die öffentliche Versorgungs- und Energiebetriebe, die Ausbildungspolitik, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und die Besetzung der Westsahara gekommen.

Demonstrators in Morocco protest the death of fishmonger Mouhcine Fikri who was crushed to death
Aufschrei der Ausgegrenzten: "Jetzt, wo viele Marokkaner ihre Wut und ihre Frustration auch auf das Fehlverhalten der Polizei und die Korruption auf höchster staatlicher Ebene ausdehnen, ist es zu spät, die zunehmende Politisierung von Fikris Tod ungeschehen zu machen. Einige Kommentatoren der örtlichen Medien betrachten den tragischen Vorfall als verstörendes Symbol für die Armut und Unterdrückung, gegen die zehntausende Marokkaner Tag für Tag ankämpfen", schreibt Greene.

Eine Neuauflage des Arabischen Frühlings?

Es wäre jedoch zu voreilig, eine Neuauflage des Arabischen Frühlings zu erwarten. Schließlich wurden den vielen öffentlichen Versammlungen bereits kurze Zeit nach dem Bekanntwerden der ersten Proteste durch die Sicherheitskräfte enge Grenzen gesetzt, um eine weitere Ausbreitung der Unruhen zu verhindern. Und Vieles spricht heute dafür, dass Fikris Tod keine landesweite Revolution auslösen und der Funke auch nicht auf den Rest Nordafrikas überspringen wird. Aber immerhin konnte als Konsequenz aus dem Todesfall eine Diskussion über die Gestaltung der Wirtschaftspolitik des Landes angestoßen werden. Auch die Liberalisierungsprogramme und die Privatisierung der Wirtschaft werden inzwischen offen kritisch hinterfragt.

Fikri wurde von den Behörden beschuldigt, Schwertfisch im geschätzten Wert von 11.000 Dollar zum Verkauf angeboten zu haben. Laut marokkanischem Gesetz ist der Handel mit dieser gefährdeten Fischart in dieser Jahreszeit aber verboten. Manche fragen nun, warum Fikri diese Regel verletzt hat, auch wenn niemand behauptet, er habe wegen dieses Gesetzesverstoßes den Tod verdient.

Die Verteidiger des Fischhändlers behaupten allerdings, durch die marokkanischen Fischereiverträge mit der Europäischen Union würden die lokalen Fischvorkommen ausgeplündert, was in Küstenstädten wie Hoceima, die historisch und kulturell mit dem Meer verbunden sind, zur Zerstörung der lokalen Fischereiindustrie führe.

Während der COP-22-Konferenz, die gegenwärtig im marokkanischen Marrakesch stattfindet, wird eine ganz ähnliche Kritik an den Handels- und Investitionsabkommen mit europäischen Staaten laut. Kritisiert werden auch die umfangreichen öffentlichen Kredite, die die marokkanische Regierung zur Finanzierung großer Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien aufnimmt. Durch diese Abkommen, argumentieren Kritiker, würden im Austausch gegen ausländische Investitionen die natürlichen Reichtümer Marokkos ausgebeutet, und den vielen Mouhcine Fikris bleibe zum Überleben nichts anderes übrig, als das Gesetz zu brechen.

Matthew Greene

© Qantara.de 2016

Übersetzt aus dem Englischen von Harald Eckhoff