Israelischer Sommer nach dem Arabischen Frühling

Noch gibt sich Israels Protestbewegung unpolitisch: Sie meidet Kritik an der umstrittenen Siedlungspolitik der Regierung Netanjahu, denkt aber anscheinend bereits über eine Parteigründung nach. Von Joseph Croitoru

Der Funke der arabischen Revolutionen war schon im Juni auf Israel übergesprungen. Damals wurde über das soziale Netzwerk Facebook zu einem landesweiten Boykott von überteuertem Hüttenkäse aufgerufen, der schließlich Preissenkungen bewirkte.

Davon angespornt, aber auch durch das Beispiel des ägyptischen Nachbarn inspiriert, veröffentlichte Mitte Juli die junge Israelin Daphne Leef, der der Mietvertrag gekündigt worden war und die kurz zuvor ihre Wohnung hatte räumen müssen, im Internet einen Protestaufruf gegen die kaum noch bezahlbaren Mieten im Ballungsgebiet Tel Aviv.

Die Filmstudentin, die trotz ausgiebiger Suche kein erschwingliches Appartement fand, begnügte sich aber nicht mit Worten, sondern zog kurzerhand in ein Zelt auf dem begrünten Mittelstreifen des Tel Aviver Rothschild-Boulevard. Ihrem wütenden Appell, das Gleiche zu tun, folgten bald auch andere junge Israelis, und die Zahl der Protestcamper wuchs, je aufgeregter die israelischen Medien über das neue Phänomen berichteten.

Zu einer landesweiten Protestbewegung wurde es allerdings erst, nachdem sich die nationale Studenten-Union der Aktion anschloss, deren Vorsitzender Itzik Schmuli Anfang August zum zweiten Sprecher der Protestler avancierte. Es beteiligten sich auch Aktivisten aus der Jugendbewegung der Arbeitspartei und der Histadrut-Gewerkschaft bis hin zu Mitgliedern der gemischten israelisch-arabischen kommunistischen Partei.

"Das Volk fordert soziale Gerechtigkeit"

Die Wortführer der israelischen "Wohnprotest"-Bewegung, die ihre Aktivitäten mittlerweile auch gezielt auf die Peripherie ausgedehnt haben, nennen als Motivation nach wie vor sozialwirtschaftliche Gründe. Die meisten der bisherigen Massenkundgebungen im Land standen denn auch unter dem politisch unverbindlichen Slogan "Das Volk fordert soziale Gerechtigkeit". Nicht nur dies erinnert etwa an die anfängliche Protestphase in Ägypten. Auch in Israel handelt es sich bei den Demonstranten hauptsächlich um Angehörige bestimmter Segmente der Gesellschaft, die das Recht für sich in Anspruch nehmen, im Interesse des ganzen Volkes zu sprechen.

Proteste in Tel Aviv: Familien mit Kinderwagen; Foto: dpa
"In Israel handelt es sich bei den Demonstranten hauptsächlich um Angehörige bestimmter Segmente der Gesellschaft, die das Recht für sich in Anspruch nehmen, im Interesse des ganzen Volkes zu sprechen. In Wirklichkeit aber rekrutieren sie sich hauptsächlich aus der ebenso aufstrebenden wie aufgrund steigender Lebenshaltungskosten zunehmend von Verarmung bedrohten Mittelschicht", schreibt Joseph Croitoru.

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In Wirklichkeit aber rekrutieren sie sich hauptsächlich aus der ebenso aufstrebenden wie aufgrund steigender Lebenshaltungskosten zunehmend von Verarmung bedrohten Mittelschicht. Nur ein kleiner Teil der Protestierenden, häufig orientalischer Abstammung, kommt aus der israelischen Unterschicht und gelegentlich finden sich unter den Protestierenden mancherorts auch einkommensschwache Angehörige der arabischen Minderheit.

All diese urbanen Bevölkerungsgruppen eint ihre vorwiegend säkulare Ausrichtung und die bewusst auf soziale Themen beschränkte Rhetorik. Vereinzelte Versuche, diesen Diskurs mit dem Hinweis zu politisieren, dass die Privilegierung der Siedler und der kinderreichen Ultraorthodoxen durch den Staat ein wichtiger Grund für die beklagte allgemeine Sozial- und Bildungsmisere sei, sind bislang in der israelischen Diskussion eher eine Randerscheinung geblieben.

Erste Anzeichen eines gegnerischen Aktivismus

Weit wirkungsvoller dagegen sind Bestrebungen der Siedlerbewegung und ihrer Gewährsmänner in der Regierung gewesen, die von der Zeltlager-Bewegung beanstandete Wohnungsnot in den Ballungszentren für die rechtsorientierte staatliche Siedlungspolitik zu instrumentalisieren. In diesem Zusammenhang hat man nicht nur gerne darauf verwiesen, dass in den Siedlungen der Westbank noch ausreichend – wohlgemerkt staatlich stark subventionierter – Wohnraum zur Verfügung stehe. Auch wurden jüngst mit dem Verweis auf den beklagten Wohnungsmangel in einem beschleunigten Verfahren Genehmigungen für den Bau zahlreicher Wohneinheiten in Ostjerusalem und in der Siedlerstadt Ariel erteilt.

Demonstrant macht Victory-Zeichen vor Israelfahne; Foto: dapd
Gegen Vereinnahmung durch die Politik: Die Protestierenden betonen, dass es ihnen ausschließlich um soziale Aspekte gehe und wehren sich gegen die Vereinnahmung durch politische Kräfte. Umstrittene Punkte wie Sicherheits- und Siedlungspolitik werden bewusst außen vor gelassen.

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Dagegen war seitens der israelischen Demonstranten – den zahlreichen Studenten unter ihnen versprach die Regierung Netanjahu gleichzeitig, bald weit über tausend erschwingliche kleine Mietwohnungen zu bauen – allerdings kein Protest zu vernehmen. Dies könnte man durchaus als Hinweis deuten, dass die Rebellierenden den unter der jüdischen Mehrheit der israelischen Gesellschaft verbreiteten Konsens über die Fortsetzung des Siedlungsbaus in den besetzten Gebieten auch weitgehend teilen. Jedenfalls so lange, wie die Regierung Netanjahu Bereitschaft signalisiert, auch ihre sozialen Belange zu berücksichtigen.

Dies tut man in Jerusalem mittlerweile wohl auch deshalb gerne, weil die Regierung darüber höchsterfreut sein dürfte, dass sich die Protestdebatte bislang hauptsächlich auf soziale und wirtschaftspolitische Themen konzentriert. Diesen Rahmen wird sie in nächster Zeit vermutlich auch nicht sprengen. Allerdings streben die Anführer der Protestbewegung durch die Mobilisierung von Fachleuten aus Wissenschaft und Wirtschaft ebenso eine Vertiefung wie eine gesellschaftliche Verbreiterung der Diskussion

Man beabsichtigt damit ein Gegengewicht zu jener Expertengruppe zu schaffen, die Ministerpräsident Netanjahu in Eile zusammengestellt hat und die mit den Protestierenden in einen Dialog treten soll. Das in Untergruppen unterteilte Expertenforum der Zeltdemonstranten, das aus rund 60 Personen besteht, soll Vorschläge zu umfassenden sozialen und wirtschaftlichen Reformen erarbeiten und diese bereits im September der Öffentlichkeit präsentieren.

Hoffnung auf Wandel des politischen Systems

 Das Arbeitsmotto lässt jetzt schon auf die Richtung schließen, in die die Reformvorschläge gehen werden. Die Experten werfen nämlich der Regierung vor, mit der relativ kleinen, aber sehr mächtigen Unternehmer- und Finanzelite Israels zu eng verbandelt zu sein. Die Bevorzugung der Reichen habe die soziale Schere im Land extrem auseinanderklaffen lassen und die staatlichen Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssysteme bis an den Abgrund gedrängt.

Polizisten führen einen Demonstranten ab; Foto: dapd
Hoffnung auf Wandel des politischen Systems: Vor allem die israelische Linke und die Gewerkschaftler hoffen, das die größte soziale Protestbewegung in Israel seit vier Jahrzehnten zu einem Wechsel im politischen System führen.

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Ob es den Anführern der Protestbewegung auch nach dem bevorstehenden Ende der Ferien- und vorlesungsfreien Zeit gelingen wird, so viele Demonstranten zu mobilisieren wie bisher, ist allerdings fraglich. Deshalb werden sie vermutlich versuchen, in den kommenden restlichen Ferienwochen den Druck auf die Regierung zu erhöhen. Dazu gehören auch die in Israel bereits kursierenden Spekulationen, dass in Tel Aviv insgeheim über die Gründung einer Partei nachgedacht wird.

Fänden heute Wahlen statt, so wird gemunkelt, würde sie über zwanzig Sitze, also etwas mehr als ein Sechstel der Mandate im israelischen Parlament erhalten. Eine überwältigende Mehrheit wäre dies zwar nicht, aber viel mehr Stimmen, nämlich 27 Sitze, hat die rechte Likud-Partei von Ministerpräsident Netanjahu bei der letzten Wahl ja auch nicht bekommen.

Joseph Croitoru

© Qantara.de 2011

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de