Tickende Zeitbombe

Nach dem Atomabkommen sind im Iran Tür und Tor für den Export von Öl und den Import europäischer Waren geöffnet. Menschenrechte, Parteienpluralismus und soziale Gerechtigkeit bleiben allerdings weiter hinter verschlossenen Türen. Doch diese zentralen Forderungen weiter Teile der Gesellschaft könnten nach dem Atomdeal wieder lauter werden. Eine Analyse von Faraj Sarkohi

Von Faraj Sarkohi

Die Erdöl- und Erdgaskonzerne in Frankreich und die Unternehmen in Deutschland und anderen europäischen Ländern stehen bereits in den Startlöchern, um wieder ins Geschäft mit dem Iran einzusteigen. Die europäischen Staaten und Konzerne hoffen derweil, ihren Marktanteil, den sie vor Beginn der Sanktionen besaßen, weiter ausbauen zu können. Die Menschenrechtssituation im Iran findet allenfalls noch in formellen Erklärungen und bei Filmfestivals Erwähnung, um das Gewissen einiger Unverbesserlicher zu beruhigen.

Vizekanzler und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, der im Juli nur wenige Tage nach dem Atomabkommen mit einer Wirtschaftsdelegation als erster westlicher Spitzenpolitiker in den Iran reiste, verlangte dort ganz direkt, dass die Islamische Republik das Existenzrecht Israels offiziell anerkennen müsse. Seine offenen Worte bei der Pressekonferenz in Teheran waren in erster Linie eine Botschaft zur Beruhigung Israels und seiner deutschen Unterstützer. So kurz nach dem Startschuss zum Abschluss von Milliardengeschäften fand sich dann aber keine Gelegenheit, klare Forderungen hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte zu stellen.

Auch der französische Außenminister ließ bei seiner Reise in den Iran Ende Juli die Menschenrechte außen vor, andere europäische Länder werden sich wohl ganz ähnlich verhalten.

Der größte Trumpf Hassan Rohanis bei den Präsidentschaftswahlen 2013 – sein Eintreten für den Abschluss eines Atomabkommens zwecks Aufhebung der Sanktionen gegen den Iran – könnte sich allerdings noch als Achillesferse der Islamischen Republik erweisen.

Gesellschaftspolitische Öffnung auf Eis gelegt

Seit Jahren weist die Propaganda der Islamischen Republik den Sanktionen des "ausländischen Feindes" die Hauptverantwortung für die Wirtschaftskrise, die steigende Inflation, die hohe Arbeitslosenquote und die um sich greifende Armut zu. Zwei Flügel der Regierung, die religiösen Reformer und der Flügel der großen Kapitaleigentümer, der Technokraten und Bürokraten in der "Partei der Diener des Wiederaufbaus" ("Kargozaran") um Rafsandschani bauschten diese Fiktion als Propagandawaffe gegen ihre populistischen Widersacher wie Ahmadinedschad und den Flügel der Fundamentalisten auf. Auch die politischen und gesellschaftlichen Repressionen wurden damit begründet, eine Einmischung des ausländischen Feindes verhindern zu wollen.

Lebensmittel-Subvention in Teheran; Foto: Fars
Gewachsene soziale Kluft: Subventionierte Lebensmittel werden in einem Verteilungszentrum in Teheran an Geringverdiener ausgegeben. Seit Jahren weist die Propaganda der Islamischen Republik den Sanktionen des "ausländischen Feindes" die Hauptverantwortung für die Wirtschaftskrise und die um sich greifende Armut zu.

Eine gesellschaftspolitische Öffnung, die vornehmliche Forderung von zentralen Teilen der Gesellschaft, und eine Verbesserung der Wirtschaftslage, das wichtigste Anliegen der Arbeiter und verarmten sowie einkommensschwachen Schichten, wurden zurückgestellt, solange die Atomgespräche andauerten. Diese Forderungen sind jedoch nicht vergessen und werden nun auf die Tagesordnung zurückkehren.

In den letzten Monaten konnte man die Sorge darüber in den Verlautbarungen einiger Politiker erkennen. Die Aufhebung der Sanktionen war die einstimmige Forderung aller Teile der Bevölkerung – mit Ausnahme einer kleinen Gruppe, die von den Sanktionen profitiert hatte. Die unterschiedlichen Flügel innerhalb der Regierung und die verschiedenen Machtorgane einte der Kompromiss, Zugeständnisse beim Atomprogramm zu machen, wie dies von der Bevölkerung gefordert wurde. Auf der Basis dieser Koalition gewann Rohani schließlich die Wahlen.

Doch das Wahlergebnis Rohanis wäre erheblich niedriger ausgefallen, hätte er zuvor nicht weitergehende Versprechen gemacht: ein offeneres politisches Klima, Parteienfreiheit, Zulassung von Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen, mehr Rechte für Frauen, die Aufhebung der Zensur von Büchern, Medien, Film und Theater, die Genehmigung von Konzertveranstaltungen, die Aufhebung des Hausarrests für Mir Hossein Mussawi und Mehdi Karrubi, die Anführer der "Grünen Bewegung", sowie die Freilassung der inhaftierten Aktivisten dieser Bewegung.

Nach der brutalen Niederschlagung der "Grünen Bewegung", schraubten deren Anhänger ihre Forderungen herunter. Sie gaben Rohani ihre Stimme – wandelten sie sich von "grün" zu "lila" – in der Hoffnung, dass zumindest einige ihrer Minimalforderungen erfüllt werden.

Rohanis neoliberale Agenda

Nach dem Sieg Rohanis fielen die meisten Ministerien und Organisationen, denen die Wirtschaftsplanung unterliegt, an die "Partei der Diener des Wiederaufbaus", die seitdem ihre neoliberalen Programme einer Privatisierung der Wirtschaft umsetzen kann. Die wachsende Unzufriedenheit der Arbeiter sowie der armen und einkommensschwachen Schichten – und die daraus resultierenden Proteste – sind vorhersehbar.

Demonstration der "Grünen Bewegung" am 15. Juni 2009 in teheran; Foto: Getty Images
Protestbewegung als zahnloser Tiger: "Nach der brutalen Niederschlagung der 'Grünen Bewegung', schraubten deren Anhänger ihre Forderungen herunter. Sie gaben Rohani ihre Stimme – in der Hoffnung, dass zumindest einige Minimalforderungen erfüllt werden. Die meisten der mit der 'Grünen Bewegung' verbundenen Politiker sind an der Macht beteiligt, mit Ausnahme der Inhaftierten und einer weniger Widersacher. Die Ziele der 'Grünen Bewegung' gerieten ins Hintertreffen", schreibt Sarkohi.

Einige Ministerien und Organisationen gingen auch an die religiösen Reformer. Die meisten der mit der "Grünen Bewegung" verbundenen Politiker sind an der Macht beteiligt, mit Ausnahme der Inhaftierten und einiger weniger Widersacher. Die Ziele der "Grünen Bewegung" jedoch gerieten ins Hintertreffen.

Die Laufbahn Rohanis als Politiker, der lange Jahre für den "Nationalen Sicherheitsrat" tätig war und in den letzten drei Jahrzehnten die Planung der Unterdrückungspolitik mitverantwortete, sowie die Geheimdienstvergangenheit vieler seiner Minister und Vertrauter warf von Beginn an einen Schatten des Zweifels über seine Regierung.

Während seiner Wahlkampagne und in den ersten Wochen seiner Präsidentschaft weckte Rohani die Hoffnung nach mehr politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Freiheiten, doch überraschend schnell nahm er von seinen Versprechen wieder Abstand.

Der erste Angriff galt der iranischen Arbeiterbewegung. Diese war nach Jahren in der Versenkung wieder zu neuem Leben erwacht und verwandelte Iran in einen Schauplatz des Protests und der Demonstrationen von Arbeitern, die für eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse und für die Gründung von unabhängigen Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretungen auf die Straße gingen. Daraufhin ließ die Regierung Rohanis die Anführer der Arbeiterbewegung festnehmen. Als Ali Rabi’i, der lange in führender Position im Geheimdienst tätig war, von Präsident Rohani als Arbeitsminister ernannt wurde, war dies ein eindeutiges Signal an die Protestierenden.

Zensur als "Recht der Regierung"

Der Minister für Kultur und islamische Führung ("Ershad") unter Rohani, dessen Ministerium offiziell die Zensur von Büchern, Medien sowie von kulturellen und künstlerischen Aktivitäten überwacht, sprach in den ersten Tagen im Amt davon, die Buch- und Medienzensur sowie die Internet-Filterung abschaffen zu wollen. Aber nur wenige Wochen später erklärte er, dass die Zensur ein "Recht der Regierung" sei. Die Zensur ging unverändert weiter, manchmal noch schlimmer als zuvor.

Die Zeitungen und bedeutenden Nachrichtenwebsites des Landes sind ein Sprachrohr der verschiedenen Flügel der Regierung. Die religiösen Reformer und die "Partei der Diener des Wiederaufbaus" um Rafsandschani monopolisieren einen wichtigen Teil der Medienlandschaft. Politischen und kulturellen Vereinigungen, die keinem der Flügel der Regierung angehören, ist es nicht nur verboten, sich politisch zu betätigen, sie dürfen auch keine Zeitungen herausgeben oder Nachrichten-Websites betreiben.

Protest für den Eintritt von Frauen in Sportstadien im Iran; Foto: Darya Safaei
Reformpolitik der leeren Versprechen: Vor Kurzem kündigte die Regierung einen Erlass an, der es Frauen erlaubt, sich bei Sportveranstaltungen in einem von Männern getrennten Bereich im Sportstadion aufzuhalten. Doch nur wenige Tage später hieß es, das Vorhaben sei aus Respekt gegenüber der Geistlichkeit, die daran Anstoß genommen hatten, wieder vom Tisch.

Die Regierung Rohanis ließ bereits mehrere Zeitungen der religiösen Reformer schließen und verschärfte die Medienzensur. Gleichzeitig inhaftierte die Judikative kritische Journalisten, Kulturschaffende und Gewerkschaftsaktivisten oder stellte sie unter Hausarrest. So wurde die Hoffnung auf größere Medienfreiheit rasch im Keim erstickt.

Während der Präsident weiterhin von der Notwendigkeit kultureller und künstlerischer Freiheit sprach, kamen Filme erst gar nicht in die Kinos oder sie wurden nach kurzer Zeit abgesetzt, obwohl sie die verschiedenen Stufen der Zensur erfolgreich durchlaufen und vom Ministerium für Kultur und islamische Führung ("Ershad") eine Vorführgenehmigung erhalten hatten.

Viele Konzerte, die vom "Ershad" bereits zugelassen worden waren, wurden von Sicherheitskräften kurzerhand wieder abgesagt, einige wurden sogar noch während der Aufführung abgebrochen. Sologesänge von Frauen sind im Iran nach wie vor verboten. In den vergangenen Monaten wurden jedoch selbst musikalische Auftritte von Frauen in Ensembles verhindert.

Vor Kurzem kündigte die Regierung einen Erlass an, der es Frauen erlaubt, sich bei Sportveranstaltungen in einem von Männern getrennten Bereich in Sportstadien aufzuhalten. Doch nur wenige Tage später hieß es, das Vorhaben sei aus Respekt gegenüber der Geistlichkeit, die daran Anstoß genommen hatte, wieder vom Tisch.

Rohanis Herrschaft durch Inklusion

Der Hausarrest der Anführer der "Grünen Bewegung" Mir Hossein Mussawi und Mehdi Karrubi, besteht noch immer. Zum einen sind es die Hardliner innerhalb des fundamentalistischen Blocks, die sich einer Freilassung widersetzen. Doch auch die religiösen Reformer und die "Partei der Diener des Wiederaufbaus" haben kein allzu großes Interesse an einem solchen Schritt, denn die Regierung Rohani könnte dann womöglich einen Teil ihrer Unterstützer erneut verlieren.

Dem iranischen Präsidenten ist es gelungen, die Anhänger der "Grünen Bewegung", die 2009 gegen den Wahlbetrug Ahmadinedschads demonstriert hatten, in jenes System zurückzuholen, das die usprüngliche Triebfeder ihres Protests war. Dieser Erfolg wäre gewiss nicht möglich gewesen, wenn die Anführer nicht unter Arrest gestanden und die religiösen Reformer und die Bürokraten sich nicht hinter Rohani gestellt hätten.

Die zweite Amtszeit Rafsandschanis als Präsident ging mit Aufständen von Arbeitern und Teilen der verarmten Bevölkerungsschichten in mehreren großen Städten zu Ende. Die Wut der Menschen über die zunehmende Armut und die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich verkümmerte zwar zu einem Randthema in der Öffentlichkeit, war aber nie ganz vergessen. Die Mehrheit der Menschen, die über die neoliberale Privatisierung erzürnt waren, erlebt derzeit eine Fortsetzung dieser Politik.

Proteste von Arbeitern am Rande von Präsident Rohanis Reise nach Täbriz; Foto: ISNA
Zunehmendes politisches Aufbegehren gegen die neoliberale Agenda der Rohani-Regierung: Die Wut der Menschen über die zunehmende Armut und die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich verkümmerte zwar zu einem Randthema, war aber nie ganz vergessen. Die Mehrheit der Menschen, die über die neoliberale Privatisierung erzürnt waren, erlebt derzeit eine Fortsetzung dieser Politik.

Bald stehen im Iran die Parlamentswahl und die Wahl des Expertenrats bevor. Die Regierung versucht bereits jetzt, durch eine Koalition aus religiösen Reformern und gemäßigten Politikern der "Partei der Diener des Wiederaufbaus", jene Kandidaten zu stärken, die ihnen genehm sind, um im zukünftigen Parlament über eine Mehrheit zu verfügen.

Gerüchte, wonach der 76-jährige Khamenei schwer krank sei und nicht mehr lange leben könnte, lassen insbesondere die Wahl zum Expertenrat zu einem bedeutungsvollen Ereignis werden, denn dieses Gremium wählt den oder die Nachfolger des religiösen Führers. Der Kampf der verschiedenen Flügel der Regierung um die Oberhand im Expertenrat ist deshalb bei diesen Wahlen besonders heftig.

Profiteure des Rentierstaates

Experten sehen die ökonomischen Probleme Irans in erster Linie strukturell bedingt. Die Wirtschaft beruht nicht auf der Produktion, sondern auf dem Transfer von Geldern aus den Erdöl- und Erdgaseinnahmen. In einem System mit fest verankerter, institutionalisierter Korruption profitieren in erster Linie die großen, dem Machtapparat nahe stehenden Kapitaleigentümer. Auch wenn die Sanktionen beendet sind, dürfen die Menschen im Iran wohl keine allzu großen Wunder erwarten, die wirtschaftlichen Probleme werden weiterhin anhalten.

Das gegenwärtige politische Klima des Landes wird nicht nur von der bevorstehenden Parlamentswahl und der Wahl des Expertenrats angeheizt, sondern auch vom Wiederaufkommen der zurückgestellten Forderungen der wirtschaftlich abgehängten Bevölkerung. Dieses Mal ist es durchaus möglich, dass sich der Wunsch nach gesellschaftspolitischer Öffnung mit der Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit paart und Teile der Mittelschicht, der Arbeiter und der einkommensschwachen Bevölkerungsteile eint.

Obwohl derzeit im Iran keine einzige nennenswerte linke Gruppierung existiert, ist die Linke derzeit eine der wichtigsten Zielscheiben für die Angriffe staatlicher und halbstaatlicher Medien. Nichtregierungsorganisationen und unabhängige Medien werden nach wie vor unterdrückt.

Die Menschen, die mit dem Beginn der "Grünen Bewegung" Protestdemonstrationen von Millionen Iranern erlebten, haben den Traum von Freiheit jedoch noch nicht aufgegeben. Solange die Atomverhandlungen andauerten, befand sich die iranische Gesellschaft in einer Warteschleife. Doch das Atomabkommen hat diese Schranke, die zwischen den Forderungen der Bevölkerung und der Regierung existierte, nun geöffnet.

Faraj Sarkohi

© Qantara.de 2015

Aus dem Persischen von Sabine Kalinock

Faraj Sarkohi begründete 1985 das Kulturmagazin "Adineh" (Freitag), deren Chefredakteur er für elf Jahre war. Als einer der Wortführer der Schriftsteller-Initiative ("Text der 134") gegen Zensur wurde er 1996 verhaftet. Ein Jahr darauf wurde er in einem geheimen Verfahren zum Tode verurteilt. Durch internationale Proteste konnte das Urteil jedoch revidiert werden. Zwei Jahre darauf reiste er nach Frankfurt am Main aus, wo er heute lebt. Sarkohi erhielt 1998 den Kurt-Tucholsky-Preis für politisch verfolgte Schriftsteller und ist Ehrenmitglied des PEN-Zentrums Deutschland.