Vom Risiko einer strategischen Überdehnung

Befürworter eines EU-Beitritts der Türkei führen meist strategische Vorteile als Argumentation an. Erich Reiter meint dagegen, dass ein Beitritt die EU sicherheitspolitisch langfristig lähmen könnte.

Befürworter eines Beitritts der Türkei zur EU führen meist strategische Vorteile als Argumentation an. Erich Reiter meint dagegen, dass ein Beitritt aus sicherheitspolitischen Erwägungen problematisch sei und die Europäische Union langfristig lähmen könnte.

Welche Probleme auch immer der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union aufwerfe, einen großen Vorteil gäbe es schon dabei - meinen viele: Strategisch und sicherheitspolitisch würde er die Union stärken. Der frühere deutsche Außenminister Fischer schwärmte sogar davon, dass der Beitritt die EU zur Grossmacht avancieren liesse.

Die vordergründige Hoffnung ist also, dass die EU mit der Türkei einen strategisch wichtigen Vorposten im Nahen und Mittleren Osten bekäme. Denn die Türkei ist eine Regionalmacht in einer strategisch bedeutsamen Region.

Das würde die Einflussnahmemöglichkeiten der Union im konfliktbeladenen Nahen und Mittleren Osten erhöhen. Die EU würde ein global wirksamer Akteur werden, und das relativ große türkische Militär brächte eine Stärkung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik; denn die EU will ja eine Kriseninterventionsstreitmacht entwickeln, um ihre Politik auch mit militärischen Muskeln auszustatten.

Sicherheitspolitisch beschränkt relevant

Diese Überlegungen wären nachvollziehbar, wenn die EU eine außen- und sicherheitspolitisch handlungsfähige Organisation wäre und zu einer ausreichenden Handlungsfähigkeit im Krisen- und Konfliktmanagement gefunden hätte. Das ist aber nicht der Fall. Diese Argumentation verkennt die sicherheitspolitische Relevanz der EU und nimmt Wunschvorstellungen zum Ausgangspunkt der Überlegungen.

Die wesentliche sicherheitspolitische Bedeutung der EU liegt darin, dass sie West- und Mitteleuropa zu einem befriedeten, stabilen Bereich gemacht hat, in dem die Länder ihre Interessenkonflikte auf friedliche Weise in der Union austragen.

Freilich hat auch die NATO wesentlich zu einem befriedeten und stabilen Europa beigetragen. Aber erst die EU gibt den Rahmen ab, der über unverbindliche Kooperationen die Staaten in vielen Bereichen zu gemeinsamen Politiken veranlasst, so dass die Union in mancher Hinsicht zu einem wirtschafts- und finanzpolitischen Faktor geworden ist, der einen staatsähnlichen Überbau über die Mitglieder geschaffen hat.

Das und zahlreiche Vereinbarungen mit Nichtmitgliedern machen die EU zum größten ökonomischen Netzwerk der Welt. Ihre Mitglieder verfolgen keine gegeneinander gerichteten Koalitionen, die zu internationalen Konflikten oder Kriegen führen könnten. Solange die EU funktioniert und die Nato existiert, wird Europa stabil bleiben und braucht auch keine Bedrohungen von außen zu befürchten.

Eigenständiger Akteur

Darüber hinaus will die EU eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufbauen. Diese soll die Wirksamkeit der gemeinsamen Außenpolitik erhöhen und die EU dazu befähigen, "humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschliesslich friedenschaffender Maßnahmen" eigenständig durchzuführen.

Nach der Europäischen Sicherheitsstrategie vom Dezember 2003 soll die EU auch ein eigenständiger global wirksamer Akteur werden, der insbesondere an Europas Rändern und im nahen Umfeld Krisen- und Konfliktmanagement betreibt und für Stabilität sorgt.

Als Krisenmanager hat die Union bereits einige Bemühungen aufzuweisen, insbesondere die Vermeidung der Konflikteskalation in Mazedonien. Die schwierigen Konflikte wie in Bosnien und Herzegowina und in Kosovo sind aber unter amerikanischer Führung von der NATO bereinigt worden, und die EU wäre auch heute und auf absehbare Zeit zu solchem Konfliktmanagement weder militärisch fähig noch politisch bereit.

In der NATO ist die Türkei bekanntlich schon längst. Eine gemeinsame Außenpolitik ist erst in Ansätzen vorhanden. Es dominiert allemal noch die nationale Interessenwahrnehmung. Ohne eine gesamteuropäische Interessenlage kann es aber keine nennenswerte Sicherheits- und Verteidigungspolitik geben.

Funktionsfähigkeit und Erweiterung

Vom global wirksamen internationalen Akteur in der Sicherheitspolitik ist die EU - entgegen aller Rhetorik - noch weit entfernt. Sie stellt aber eine Zone der Stabilität dar, in die auch andere Staaten mehr oder weniger einbezogen sind.

Diese Stabilitätswirkung für Europa kann sie entfalten, solange sie nicht strategisch überdehnt ist, solange also ein gewisses Mindestmass an Übereinstimmung der Interessen und Ziele ihrer Mitglieder gegeben ist.

Sowohl die Erhaltung der Friedensfunktion als auch die Realisierung der Verteidigungspolitik sind also vor dem Hintergrund der Gefahr einer strategischen Überdehnung der EU zu sehen.

Wenn einmal zu viele unterschiedliche Interessen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind und zu viele Mitglieder rücksichtslos nationale Interessen verfolgen, ohne dabei auf europäische Gesamtinteressen zu achten, werden die sicherheitspolitischen Funktionen der EU zwangsläufig beschädigt.

In dieser Hinsicht wurden die Chancen der Weiterentwicklung der Union hin zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik durch die große Ost- und Süderweiterung 2004 um zehn neue - ganz überwiegend noch nicht wirklich beitrittsreife - Mitglieder sowie durch die Aufnahme der noch weit von der Beitrittsreife entfernten Länder Bulgarien und Rumänien Anfang 2007 bereits gedämpft. Die Stabilitätszone wird räumlich erweitert, aber die Stabilität selbst wird reduziert.

Größere Zone - weniger Stabilität

Mit der Türkei käme ein großes Land mit ungefähr 74 Millionen Einwohnern dazu, das besonders konsequent die eigenen nationalen Anliegen verfolgt und einer Einengung durch gesamteuropäische Interessen völlig verständnislos gegenübersteht.

Sie würde auch wegen ihrer Größe wohl den Anspruch stellen, als eine Führungsmacht die Sicherheitspolitik der EU nach ihren Interessen zu gestalten und die EU zum Ausbau ihrer Position als Regionalmacht im Nahen und Mittleren Osten zu instrumentalisieren.

Wegen ihrer geographischen Position hat die Türkei tatsächlich eine bedeutsame geopolitische und geostrategische Rolle im Nahen und Mittleren Osten. Mit ihrer EU-Mitgliedschaft würden die Außengrenzen der Union die Kaukasusrepubliken Georgien, Armenien und mit der Enklave Nachitschewan auch Aserbeidschan erreichen, dazu Iran, den Irak und Syrien.

Dieser Umstand würde die EU stärker in die Probleme des Nahen und Mittleren Ostens hineinziehen. Dann brauchte sie Fähigkeiten im Konfliktmanagement, die sie heute jedenfalls nicht besitzt.

Wie sollte sich das zarte Pflänzchen der gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik in der gefährlichsten Weltregion entwickeln, wenn sich die EU heute noch schwertut mit dem Konfliktmanagement am Balkan, dessen Konflikte im Vergleich zu denen im Mittleren Osten geradezu banal wirken.

Es bedarf keiner hellseherischen Fähigkeit, um vorherzusagen, dass die EU in ernsten und gefährlichen Fällen des Konfliktmanagements mit der Möglichkeit neuer Kriege und der nuklearen Herausforderung sehr bald überfordert wäre.

Mit ihren Versuchen zur diplomatischen Bewältigung der Nuklearpolitik Irans hat sich die Union zwar selbst sehr gelobt, tatsächlich aber gar nichts zustande gebracht. Die Mitgliedsländer sind ganz überwiegend nicht gewillt, sich in ernsten Konflikten zu engagieren.

Ein problematisches Mitglied

Die Türkei würde auch einige Nachbarschaftsprobleme in die EU einbringen, die erhebliche Konfliktpotenziale enthalten. Das betrifft zum Beispiel die Nutzung des Wassers von Euphrat und Tigris in Konkurrenz mit dem Irak und insbesondere mit Syrien.

Die Türkei steht in einer Art natürlichem Konkurrenzverhältnis zu Russland um Einfluss in den turkstämmig dominierten Staaten im Kaukasus und in Zentralasien, die zugleich der geopolitische Hinterhof Russlands sind, was wiederum die Entwicklung der Beziehungen der EU zu Russland mittel- bis längerfristig belasten könnte.

Auch wenn die Türkei und Russland sich derzeit um eine Verbesserung ihrer Beziehungen bemühen, darf die Tatsache der weiterhin bestehenden geopolitischen Rivalität nicht unterschätzt werden.

Die Türkei hat kein Verständnis für kollektive Minderheitenrechte und ist doch ein Land mit beachtlichen Minderheiten. Die Nichtanerkennung der Kurden als Nationalität wird noch auf lange Sicht die innere Stabilität des Landes beeinträchtigen, aber auch Probleme in den Beziehungen zu den Nachbarstaaten Iran, Irak und Syrien, die ebenfalls große kurdische Minderheiten haben, mit sich bringen.

Das alles soll nicht überschätzt werden, aber es brächte gewiss keine sicherheitspolitischen Vorteile für die EU.

Erich Reiter

© Neue Zürcher Zeitung 2007

Prof. Dr. Erich Reiter ist Sektionschef im österreichischen Verteidigungsministerium und Beauftragter für strategische Studien.

Qantara.de

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