Scheitern auf ganzer Linie

Der tunesische Autor Shukri al-Mabkhout hat mit dem "Italiener" ein Werk vorgelegt, das die Mechanismen und Zwänge der Ben-Ali-Ära aufzeigt und verdientermaßen den diesjährigen Arabischen Booker-Preis gewonnen hat. Günther Orth hat den Roman gelesen.

Von Günther Orth

Dass der Arabische Booker-Preis 2015 an den bislang unbekannten tunesischen Autor Shukri al-Mabkhout ging, überraschte wohl auch die Geldgeber am Persischen Golf, denn das Buch war in den Vereinigten Arabischen Emiraten zunächst als verboten gelistet – bis man, um sich weitere Peinlichkeiten zu ersparen, das preisgekrönte Werk dann doch eilig freigab. Immerhin, der Reiz des Verbotenen war da und machte zusätzlich neugierig darauf, was einem Teil des arabischen Lesepublikums hier ursprünglich vorenthalten werden sollte.

Was wir von diesem Roman als erstes lernen ist, dass man schöne Männer in Tunesien angeblich Italiener (arabisch-umgangssprachlich "Tilyani") nennt. Im Mittelpunkt dieses Romans steht entsprechend der von Frauen stets umschwärmte "Italiener" Abdel-Nasser, der in einem frappanten Auftritt auf den ersten Seiten während der Beerdigung seines Vaters vor versammelter Trauergemeinde den Imam, der den Toten soeben zur Ruhe setzen will, in wilder Raserei blutig schlägt. Dieser Ausbruch des erklärten Atheisten bleibt zunächst allen Anwesenden ein peinliches Rätsel.

Auf der Suche nach privatem Frieden

Wir lernen den Hauptprotagonisten im Rückblick als einen ursprünglich linksradikalen Utopisten und Aktivisten kennen, der über die Jahre mehr und mehr seinen Frieden mit den Verhältnissen in Tunesien macht und zugleich – vergeblich – seinen privaten Frieden sucht.

Historisch umspannt die Erzählung die Phase von der Herrschaft des tunesischen Republikgründers Habib Bourguiba (bis 1987) bis zur Konsolidierung der Präsidentschaft des gegen ihn putschenden Zine al-Abidin Ben Ali um 1990. Diese begrenzte Zeit wird jedoch so detailliert und treffsicher beschrieben, dass die Diskurse und Konflikte im Mutterland der arabischen Revolutionen von 2011 so verständlich werden, dass man die Revolution förmlich vorausspürt.

Tunesiens ehmaliger Präsident Zine al-Abidin Ben Ali; Foto: dpa/picture-alliance
Leben im Ben-Ali-Polizeistaat: Mit seiner Darstellung der Mechanismen der Ben-Ali-Ära erweist Mabkhout den Tunesiern einen großen Dienst – während er zugleich einen Roman vorlegt, der sich zwischen einer universal verständlichen Stasi-Dokumentation und den Abgründen der amourösen Verwicklungen des Protagonisten Nasser bewegt.

Dass auch der Autor Mabkhout nicht der Versuchung erliegt, die weithin bekannte spätere Vertreibung Ben Alis durch den tunesischen Volksaufstand literarisch zu verarbeiten, ist keine Schwäche: Der arabische Schlüsselroman zu den Ereignissen von 2011 wird wohl noch ein paar Jahre auf sich warten lassen, denn noch sind die Umbrüche der arabischen Länder nicht abgeschlossen, und noch ist auch Tunesien trotz demokratischer Errungenschaften noch nicht auf der sicheren Seite.

Mit seiner Darstellung der Mechanismen der Ben-Ali-Ära erweist Mabkhout den Tunesiern gleichwohl einen großen Dienst – während er zugleich einen Roman vorlegt, der sich zwischen einer universal verständlichen Stasi-Dokumentation und den Abgründen der amourösen Verwicklungen des Protagonisten Nasser bewegt. Es ist ein kompromisslos moderner und ganz und gar "untypischer" arabischer Roman – wobei mittlerweile die meisten arabischen Romane genau das sind, nur dass dies im Westen kaum jemand mitbekommt.

Sprachlich wie ein teurer, lange gereifter Wein

Das Buch lebt von der erzählten Atmosphäre, von der Entwicklung des Hauptcharakters, aber auch von der Manieriertheit und zuweilen der Pedanterie des Erzählers, der sich keiner Nachlässigkeit bei Details, Metaphern und Intertextualität und schon gar nicht bei seinen weit geschwungenen, aber stets exakt strukturierten Sätzen schuldig machen will. Sein Arabisch ist wie ein teurer, lange gereifter Wein, wie man es heute nur bei wenigen Schriftstellern findet und das dennoch seine nordafrikanische Verortung durch landestypische Vokabeln und Wendungen nie verleugnet.

An der Universität wird Nasser einer der führenden Köpfe der linksradikalen Studentenbewegung, die sowohl Zusammenstöße mit den erstarkenden Islamisten als auch mit dem Staatsapparat zu gewärtigen hat und auch deshalb gesellschaftlich marginal bleibt. Aber in einer radikalen Bewegung ist die Bewegung die Welt, und in diese Welt tritt Zeina, eine Philosophiestudentin vom flachen Land, die zu einer Wortführerin der Bewegung aufsteigt und die Nasser mit ihrer berberischen Schönheit ebenso betört wie mit ihren abstrakten, aber logisch immer wasserdichten Exkursen. Debatten um die Soziologie Bourdieus entspinnen sich unter den Studierenden ebenso wie um die Stellung von Mao oder Lenin als Leitfiguren oder Irrwege der erhofften Weltrevolution.

 Blumen der Revolution, Tunis - Symbolbild; Foto: AFP/Getty Images/M. Bureau
Revolution aus den Gewehrläufen: In einer radikalen Bewegung ist die Bewegung die Welt, und in diese Welt tritt Zeina, eine Philosophiestudentin vom flachen Land, die zu einer Wortführerin der Bewegung aufsteigt und die Nasser mit ihrer berberischen Schönheit ebenso betört wie mit ihren abstrakten, aber logisch immer wasserdichten Exkursen.

Einen großen Teil der Erzählung über Nasser und Zeina nimmt bei der Diskussion darüber ein, ob das, was zwischen ihnen ist, Liebe sei. Zeina hat Vorbehalte. Sie ist mit einer brutalen Vergewaltigung vorbelastet, derer sie ihren Vater bzw. ihren Bruder verdächtigt. Doch um nach dem Abschluss an der Uni unterrichten zu können, müssen die beiden heiraten (sie begnügen sich mit einer Zivilehe). Fast voraussehbar, entfremden sie sich zusehends, wenn auch quälend langsam, voneinander.

Verbrüderung mit dem kleineren Übel

Nasser wird Journalist in einer staatlichen Zeitung, in der er nicht mehr unabhängig bleiben kann; die Zensur verlangt ihm erniedrigende Verrenkungen ab. Doch die zunehmende islamistische Gefahr lässt viele Intellektuelle eine Verbrüderung mit dem Regime als das kleinere Übel erscheinen. Auch die ehemals radikale Zeina wird zu einer Verehrerin des "Retters" Ben Ali.

Während Zeina ihre Zulassungsprüfung vorbereitet, macht sich Nasser ihre Cousine Najla gefügig. Daraus wird eine zweite große Liebesgeschichte und im Roman zudem eine der längsten, poetischsten und mutigsten Liebesszenen der modernen arabischen Literatur. De facto ergibt sich eine heikle Dreierbeziehung, die wiederum nur scheitern kann.

Während die Atmosphäre in Tunis sich verändert, Kriminelle zunehmend den Ton angeben und Islamisten mit immer mehr Moscheen immer mehr Menschen an sich ziehen, wird Zeina eröffnet, sie habe die Prüfung nicht bestanden. Es gelingt ihr nicht, die Unileitung davon zu überzeugen, dass ihr Scheitern nur auf ihre Weigerung zurückzuführen war, dem Professor Sex zu gewähren. Für sie ist diese vernichtende Demütigung der Ausschlag, Tunesien den Rücken zu kehren – in Paris wartet ein betagter Verehrer auf sie, der sie zwar hingebungsvoll liebt, mit dem sie aber auf den großen Traum der akademischen Karriere verzichten muss. Für Nasser zerbricht unterdessen der letzte Traum von erfüllter Liebe.

Nach dem Scheitern der Ersatzbeziehung mit Najla wird Nassers Verhalten immer krankhafter. Seine neueste Beute ist eine junge Studentin, die er durch Karriereversprechungen an sich binden will. Doch er scheitert kläglich mit ihrer Eroberung, als ihm eine Szene aus seiner Kindheit gewahr wird, mit der sich denn auch die Friedhofsszene vom Anfang des Buches erklärt.

Die Protagonisten dieses Romans scheitern an der Unmöglichkeit der Liebe und an den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen. Shukri al-Mabkhout hat mit dem "Italiener" ein Werk vorgelegt, das in diesem Jahr verdientermaßen den großen Preis gewonnen hat.

Günther Orth

© Qantara.de 2015

Shukri al-Mabkhout: "Der Italiener", Arabisch, Roman, Kairo 2015, 344 Seiten