Der Aufschrei von Köln

Die Täter von Köln, Düsseldorf und Hamburg müssen bestraft werden, ganz egal wer sie sind. Doch wer jetzt mit dem Leid der betroffenen Frauen populistische Stimmung gegen diejenigen macht, die aus menschenunwürdigem Leid geflüchtet sind, gibt seine Menschlichkeit preis, meint Raphael Sartorius.

Von Raphael Sartorius

Die Übergriffe der Silvesternacht vor dem Kölner Hauptbahnhof sind in allerhöchstem Maße unerträglich und inakzeptabel. Zahlreiche Frauen wurden Opfer sexualisierter Gewalt, die nach Zeugenaussagen von einem Mob von Männern ausging. Am vergangenen Sonntag berichtete Spiegel Online, dass bei der Kölner Polizei 516 Strafanzeigen eingegangen sind –  ein Großteil davon wegen Sexualdelikten.

Die Polizei war, nach eigenen Angaben, mit der Situation überfordert und deshalb nicht in der Lage, die Frauen zu schützen. Als erste Reaktion darauf wurde im Laufe der vergangenen Woche Kölns Polizeichef Wolfgang Albers in den Ruhestand versetzt. Das ist, was die Medien halbwegs einstimmig berichten und deshalb unter Vorbehalt als gesichert gelten kann.

Es ist noch einmal in aller Deutlichkeit zu unterstreichen: Gewalt, und vor allem sexualisierte Gewalt gegen Menschen ist unter keinen Umständen hinzunehmen – jeder der sich über die Kölner Silvesternacht empört, empört sich zu Recht. Diejenigen, von denen diese Gewalt ausging  – und diese Worte sind wohlüberlegt – sind mit der ganzen Härte des Rechtsstaates zur Verantwortung zu ziehen. Mit straf- und zivilrechtlich scharfen Maßnahmen.

Zwischen Vorurteilen und politischen Interessen

Soweit zu dem, was bis dahin als Konsens gelten kann. Von da an beginnen jedoch die politischen Schlammschlachten, die jene Silvesternacht ausgelöst hat. Diese bewegen sich jenseits von faktenbasiertem Wissen auf der Ebene von Vorurteilen und politischen Interessen. Das Versagen der Staatsorgane – etwa einer Polizei, die aus irgendwelchen Gründen nicht in der Lage ist, die Menschen in ihrem Hoheitsgebiet zu schützen – soll nicht in den Mittelpunkt gerückt werden. Der Fokus soll darauf liegen, dass laut vielen Zeugen und Medien jene Männer, welchen sexuelle Belästigung vorgeworfen wird, wahlweise aus dem nordafrikanischen Raum, aus Tunesien oder Marokko oder Libyen; aus dem Nahen Osten wie Syrien oder Afghanistan kommen sollen.

Die Einigkeit in der Uneinigkeit besteht darin zu sagen: Araber haben Frauen belästigt. Die Vermutung, dass es sich dabei um Flüchtlinge handelt, wurde sofort laut. Seitens der Polizei oder der Staatsanwaltschaft werden diese Kenntnisse als definitiv gesichert dargestellt. Es gab wohl vereinzelte Festnahmen und Vernehmungen von Verdächtigen aus der arabischen Welt, auch Asylbewerber – die sich bisher jedoch an einer Hand abzählen lassen.

Um das 20. Jahrhundert war das gängige Vorurteil vieler Deutscher und Europäer gegenüber der arabischen Welt etwas, was damals als positiv empfunden wurde: sexuelle Freizügigkeit in Harems mit Bauchtänzerinnen, geprägt von fabulös-ausschweifenden Geschichten sogenannter Orientreisender. Um das 21. Jahrhundert lautet ein gängiges Vorurteil über die arabische Welt, dass dort angeblich lauter Frauen in Abhängigkeit von Männern leben, die ihre Sexualtriebe nicht beherrschen können, diese Frauen sexuell ausbeuten und durch Religion gefügig machen.

Jean-Léon Gérôme; Harem Pool; Quelle: privat
Der Orient als Projektionsfläche für Haremsfantasien des weißen Mannes: Um das 20. Jahrhundert war das gängige Vorurteil vieler Deutscher und Europäer gegenüber der arabischen Welt etwas, was damals als positiv empfunden wurde: sexuelle Freizügigkeit in Harems mit Bauchtänzerinnen, geprägt von fabulös-ausschweifenden Geschichten sogenannter Orientreisender.

Die Ausschweifungen der Harems sind nichts weiter als haltlose Übertreibungen und Vorurteile - das hat sich mittlerweile auch hier herumgesprochen. Das Klischeebild vom arabischen Mann, der seinen sexuellen Trieben erlegen sein soll, entbehrt ebenfalls jedweden ernsthaften Kommentars. Nur ist das bei vielen Menschen scheinbar doch noch nicht angekommen. Ebenso wenig, dass die arabische Welt keine Einheit darstellt und daher als solche lediglich in manchen Köpfen existiert.

Melange aus Pauschalisierungen und Vorurteilen

Aus dieser giftigen Melange aus Verallgemeinerungen und diffusen Vorurteilen versuchen rechtspopulistische und rechtskonservative Parteien und Bewegungen gewissenlos politisches Kapital herauszuschlagen. Sie verdrehen in hetzerischer Weise die Tatsache, dass Flüchtlinge schutzbedürftige Menschen sind, in das Gegenteil, nämlich, dass von Flüchtlingen angeblich Gefahr ausgeht. Und sie suggerieren, das die übergriffigen Männer in Köln arabische Flüchtlinge gewesen seien, obwohl das keinesfalls bestätigt ist.

AfD und CSU versuchen zu suggerieren, dass die abstoßenden Vorfälle in Köln keine Ausnahme, sondern die Regel darstellten. Araber als Sextäter, so die eindimensionale und rassistische Wahrnehmung. Deshalb sollen auch keine Flüchtlinge mehr nach Deutschland kommen – diese Botschaft schwingt bei AfD und CSU mal mehr, mal weniger implizit mit. Begründet wird dies mit dem Schutz von Frauen.

Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU); Foto: Reuters/M. Dalder
Harter Kurswechsel in der Einwanderungspolitik: Bereits im Oktober hatte der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) dem Bund mit einer Verfassungsklage gedroht, sollte die Flüchtlingszuwanderung nicht beschränkt werden. Nach den Kölner Übergriffen auf Frauen fordern CDU und CSU deutliche Gesetzesverschärfungen. Nach Meinung der CDU-Spitze sollen gewalttätige Flüchtlinge ihren Asylstatus verlieren, wenn sie zu einer Gefängnisstrafe ohne Bewährung verurteilt werden. Die CSU geht weiter: In Schnellverfahren sollen Straftäter sofort ausgewiesen werden.

Zur Faktenlage: Die Frauenrechtsorganisation "Terre des Femmes" verweist darauf, dass 13 Prozent aller Frauen in Deutschland sexuelle Gewalt bereits einmal erlebt haben. Die Aufklärungsquote bei Vergewaltigungen liegt bei traurigen fünf Prozent. Wer dazu nach Stellungnahmen auf den Internetseiten von CSU und AfD sucht, wird jedoch nicht fündig. Scheinbar fehlt hieran das Interesse. Und warum? Möglicherweise deshalb, weil diese sexuelle Gewalt mutmaßlich und in erster Linie von "Biodeutschen" ausgeht und nicht von den "Arabern". Und weshalb geht kein Aufschrei durch die AfD und auch die CSU gegen die täglichen Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland, in denen Frauen und Kinder Schutz suchen, die vor der sexuellen Sklaverei des sogenannten "Islamischen Staates" geflohen sind?

Die Partei der Herdprämie im Dienste der Frauen?

Die CSU, als Partei der Herdprämie und des niedrigsten Frauenanteils, fällt momentan im Kampf für Frauenrechte nur dadurch auf, weil sie dabei gleichzeitig gegen Flüchtlinge hetzen kann. Vor fünf Jahren hatte die CSU eine 40-prozentige Frauenquote beschlossen – bis heute sind gerade einmal fünf von 17 Kabinettsmitgliedern weiblich.

Und noch etwas: Als 1997 vom deutschen Bundestag die Strafbarkeit bei Vergewaltigung in der Ehe beschlossen wurde, stimmten neben Horst Seehofer – heute CSU-Vorsitzender, damals bereits 48 Jahre alt – zahlreiche weitere CSU-Politiker gegen das Gesetz. Zitat Andreas Scheuer, Generalsekretär der CSU am 5. Januar 2016: "Wer die Regeln unseres Zusammenlebens, unter anderem den Respekt gegenüber Frauen nicht akzeptiert, kann hier in Deutschland keinen Platz in unserer Gesellschaft haben." Gilt das nun ausschließlich für Ausländer oder auch für die "Biodeutschen", Herr Scheuer?

Was in jener Silvesternacht in Köln vielen Frauen zugestoßen ist, ist furchtbar und mit nichts zu rechtfertigen und zu entschuldigen. Deshalb ist es zunächst nicht wichtig, woher die Männer kommen – sie sind zweifelsohne kriminell – und vor dem Gesetz sind bekanntlich alle gleich. Falls jemals sicher sein sollte, wer die Täter waren, kann über das weitere Vorgehen in solchen Fällen diskutiert werden.

Die Täter von Köln, Düsseldorf und Hamburg müssen bestraft werden, ganz egal wer sie sind. Doch wer jetzt mit dem Leid der betroffenen Frauen populistische Stimmung gegen diejenigen macht, die aus menschenunwürdigem Leid geflüchtet sind, gibt seine Menschlichkeit preis.

Raphael Sartorius

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