Verlorene Sprache

Krieg verändert Gesellschaften und Kultur ist einer der Gradmesser. So auch im Nahen Osten, wo Künstler und Intellektuelle derzeit zwischen Resignation, innerer Emigration, Kritik, Wut, Trauer und Hoffnung schwanken. Ulrike Schleicher informiert.

Von Ulrike Schleicher

So radikal wie Sayed Kashuas Haltung hat bislang niemand reagiert: Vor rund zwei Wochen verließ der israelisch-arabische Schriftsteller und Kolumnist der Zeitung "Haaretz" seine Heimat. Was als befristeter Aufenthalt in den USA gedacht war, wurde zum Abschied für immer. Ein Grund ist der Krieg, den Israel gegen die Hamas in Gaza führt. Dieses Mal mit einer Härte, die den Tod vieler unschuldiger Menschen in Kauf nimmt. Aber mehr noch ist es die hasserfüllte Stimmung im eigenen Land, die ihn nach 25 Jahren Schreiben "in der Hoffnung, dass eine Koexistenz möglich ist", schließlich zur Aufgabe seines Traumes zwang. "Wenn jüdische Jugendliche durch die Straßen ziehen und den Tod von Arabern fordern, nur weil sie Araber sind, dann habe ich meinen eigenen kleinen Kampf verloren", beschreibt der 39-Jährige seine Gefühle in einer Kolumne.

Kein Mitleid mehr möglich?

Nicht nur Kashua ist überzeugt, dass dieser Krieg tiefer in die Gesellschaft eingreift als jene zuvor. Viele machen die Ermordung der drei jüdischen Jugendlichen und des 16-jährigen Palästinensers dafür verantwortlich. Angesichts dieser Brutalität habe sich die Atmosphäre aufgeladen und "es kommt zum Tabubruch", sagt der israelische Schriftsteller Assaf Gavron ("Auf fremdem Land"), der wie seine Freunde "Trauer, Angst und Frustration" empfindet. Um nicht von diesen negativen Gefühlen verschlungen zu werden, lebt der 45-Jährige derzeit in zwei Welten: "Ich trenne Arbeit und Alltag völlig, so geht es einigermaßen."

Andere treten ins Rampenlicht. Wie die Regisseurin Shira Geffen ("Jellyfish"), die jüngst an den Filmfestspielen in Jerusalem teilnahm und zusammen mit anderen Filmemachern einen Waffenstillstand forderte sowie das Publikum bat, gemeinsam der toten Kinder in Gaza zu denken. Kulturministerin Limor Livnat postete daraufhin auf Facebook: "Solche Leute sind eine Schande für den Staat." Geffen ließ sich davon nicht unterkriegen und postete zurück: "Mit Verlaub, darf ich hier keine Menschlichkeit mehr zeigen?" Die israelische Gesellschaft sei tief gesunken.

"Kultur muss einen Platz haben"

Sayed Kashua; Foto: picture-alliance/Effigie/Leemage
"Wenn jüdische Jugendliche durch die Straßen ziehen und den Tod von Arabern fordern, nur weil sie Araber sind, dann habe ich meinen eigenen kleinen Kampf verloren", beschreibt der 39-Jährige seine Gefühle in einer Kolumne.

Hinsichtlich des Leidens befinde sich das palästinensische Volk schon längst im Abgrund, sagt der Gründer und Leiter des Al-Kasaba-Theaters in Ramallah, George Ibrahim. Er erlebe fassungslos, was Menschen anderen Menschen antun: "Es ist unerträglich." In Zeiten wie diesen rücke die Kultur innerhalb der palästinensischen Gesellschaft naturgemäß in den Hintergrund: "Alle sind voller Wut und Trauer." Er kann das verstehen, plädiert jedoch trotzdem für das Weitermachen: "Kultur und Kreativität müssen einen Platz haben. Es ist schwer, aber sonst ist alles verloren."

Mohammed Dajani denkt ähnlich. Der ehemalige Professor an der Al-Quds Universität in Ostjerusalem hat am eigenen Leib erfahren, wie unerbittlich auch seine Gesellschaft mit Andersdenkenden umgeht. Weil er privat an einem wissenschaftlichen Projekt mitarbeitet, bei dem es um Versöhnung der beiden Völker geht und ein Teil davon eine Reise junger Palästinenser nach Auschwitz war, wurde er für viele untragbar: Plötzlich galt er als Verräter und musste die Uni verlassen. Dennoch ist Dajani überzeugt, dass Frieden möglich ist: "Wir müssen voneinander lernen, miteinander reden."

"Bitte unterlassen Sie das Töten"

Und dann gibt es noch diejenigen, die Teil der israelischen Gesellschaft sind, aufgrund ihrer Biographie das Geschehen jedoch aus einer gewissen Distanz beobachten. So zum Beispiel die deutsche Schriftstellerin Sarah Stricker ("Fünf Kopeken"), die seit fünf Jahren in Tel Aviv wohnt. Sie durchlebe ein Gefühlschaos, sagt sie. Zum einen schämt sie sich, dass sich Familie und Freunde zu Hause Sorgen machen, "obwohl hier das normale Leben doch noch immer weitergeht".

Mohammed Dajani; Foto: privat
Mohammed Dajani, ehemaliger Professor an der al-Quds Universität in Jerusalem ist überzeugt, dass Frieden möglich ist: "Wir müssen voneinander lernen, miteinander reden."

Auf der anderen Seite sei sie derzeit nicht in der Lage, ein normales Leben weiterzuführen. "Jeden Morgen setze ich mich an den Schreibtisch und versuche mit der Arbeit fortzufahren, aber es gelingt mir einfach nicht, mal, weil in dem Moment, in dem ich gerade glaube, den roten Faden gefunden zu haben, eine Sirene losheult. Mal, weil keine Sirene losheult, aber man jede Sekunde auf die nächste wartet", beschreibt sie es.

Daneben verspüre sie eine Wut, die nicht nur die Kriegsparteien einschließt: "Wenn das Blutvergießen weitergeht, haben daran vor allem wir Schuld, die Weltgemeinschaft, die nichts tut - außer beide Seiten höflich aufzufordern, das Töten doch bitte zu unterlassen." Das Einzige, was Ordnung in ihre Gefühle bringe, sei das Schreiben, sagt die 33-Jährige. Unwillkürlich jedoch dränge sich der Krieg in ihren Roman hinein - "so wie sich der Krieg überhaupt in jede Geschichte, in jedes Gespräch drängt."

Zerissene Region

Der in Israel geborene Schriftsteller und New Yorker Theatermacher Tuvia Tenenbom, der zurzeit sein Buch "Allein unter Deutschen" in Israel vorstellt, empfindet vor allem die Macht der Medien als negativ und reagiert - in den Medien - bissig: "Ausländische Reporter sprechen keine der beiden Sprachen und haben keine Ahnung, was hier vor sich geht." Die einen säßen in den Krankenhäusern in Gaza und filmten unter der Regie der Hamas Verletzte. Die anderen säßen in schicken Hotels in Tel Aviv und kritisierten Israel.

Auch Zubin Mehta, Dirigent und Direktor des Israel Philharmonic Orchestra auf Lebenszeit, nimmt kein Blatt vor den Mund: "Ich liebe das Land, seine Regierung nicht." Viele Fehler, keinen Mut. Der 78-Jährige setzt sich persönlich für jüdisch-arabisches Zusammenleben ein. Vor sechs Jahren hat er in zwei Städten im Norden Musikschulen gegründet, wo junge Musiker beider Völker studieren. Ginge es nach dem Maestro - er würde in "Ramallah und Gaza Beethoven und Mozart dirigieren". Die Region sei zerrissen, "Musik kann heilen".

Wann auch immer der Heilungsprozess im Nahen Osten einsetzt - für Sayed Kashua kommt er zu spät. Er hat nicht nur seine Heimat verlassen, sondern auch seine Sprache verloren: "Ich werde nicht mehr auf Hebräisch schreiben."

Ulrike Schleicher

© Deutsche Welle 2014

Redaktion: Anne-Sophie Brändlin/DW