Riskante Mission

Eine von den Saudis forcierte und von mehreren pakistanischen Regierungen in Folge vertretene ultrakonservative Weltanschauung verändert das Wesen der pakistanischen Gesellschaft. Von James M. Dorsey

Von James M. Dorsey

Der Oberste Gerichtshof Pakistans beschloss vor Kurzem, die Entscheidung im Berufungsverfahren über eine spektakuläre Anklage wegen Gotteslästerung zu vertagen. Die Brisanz dieser Entscheidung wird am gleichzeitigen Aufgebot mehrerer Tausend Sicherheitskräfte deutlich. Vom Ausgang des Verfahrens hängt das Leben von Asia Bibi ab, einer pakistanischen Christin und Mutter von fünf Kindern, die nach einem Streit mit ihren muslimischen Kolleginnen 2010 wegen angeblicher Beleidigung des Propheten Mohammed zum Tode verurteilt wurde.

Das Gericht muss nun einen neuen Verhandlungstermin festlegen. Doch es geht nicht allein um das Schicksal von Asia Bibi, sondern auch darum, ob Pakistan willens und fähig ist, einen Schlussstrich unter mehr als vier Jahrzehnte saudisch geprägter Islamisierungspolitik zu ziehen. Eine Politik, die militante islamistische und dschihadistische Gruppen unterstützt und die ultrakonservative Weltanschauungen in der pakistanischen Gesellschaft und in zentralen Institutionen des Staates verankert hat.

Ausbruch aus der internationalen Isolation

In einer Ironie des Schicksals steht Premierminister Nawaz Sharif, der eng mit Saudi-Arabien verbunden ist, vor einem ähnlichen Dilemma wie das saudische Königreich selbst: Wie drängt man die Vertreter einer puritanischen, intoleranten und fundamentalistischen Auslegung des Islam zurück, die die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des eigenen Landes behindert und es international isoliert?

Eine große Aufgabe für beide Länder. Die in Saudi-Arabien herrschende Familie Al-Saud gründete das heutige Königreich auf einem Machtbündnis mit der ultrakonservativen Bewegung der Wahhabiten, die auf Muhammad ibn ʿAbd al-Wahhāb zurückgeht, einen islamischen Gelehrten aus dem 18. Jahrhundert. Die Familie Al-Saud ist die einzige Herrscherfamilie am Golf, die sich ihre weltliche Macht durch das fundamentalistische geistliche Establishment ihres Landes religiös legitimieren lässt. Der Verlust dieser Legitimation könnte ihr gefährlich werden.

Asia Bibi, a Pakistani Christian, convicted of insulting the Prophet Muhammad in an argument with Muslim women
Zermürbendes juristisches Tauziehen: Die Christin Asia Bibi wurde 2010 wegen Gotteslästerung zum Tode verurteilt, obwohl die Zeugenaussagen höchst zweifelhaft waren. Im Oktober 2014 bestätigte ein Berufungsgericht das Urteil; im Juli 2015 setzte der Oberste Gerichtshof die Todesstrafe aus und machte damit den Weg frei für die erneute Anhörung. Die Berufungsverhandlung am 13. Oktober wurde dann aber verschoben.

Mehrere pakistanische Regierungen haben im Tausch gegen massive finanzielle Unterstützung dem fundamentalistischen Gedankengut der Saudis Tür und Tor geöffnet und damit deren Bemühungen zur Abwehr nationalistischer, revolutionärer und liberaler Weltanschauungen Hilfestellung geleistet.

Die pakistanischen und saudischen Interessen manifestierten sich lange in der Unterstützung islamistischer und dschihadistischer Gruppen, die gegen muslimische Minderheiten vorgingen und – mit Rückendeckung der USA – den Einmarsch der Sowjets in Afghanistan bekämpften, den Aufstieg der Taliban förderten und die Konfrontation mit Indien im Kaschmir-Konflikt anheizten.

Damit haben Saudi-Arabien und Pakistan einen Geist aus der Flasche gelassen, den sie heute nicht mehr einfangen können. Er hat die pakistanische Gesellschaft und Teile der Regierung derart durchdrungen, dass es eine ganze Generation dauern könnte, die Entwicklung umzukehren.

Zeit für einen politischen Kurswechsel

Vielleicht ist die Vertagung der Berufungsverhandlung ein Zufall, aber Tatsache ist, dass die Regierung Sharif nur wenige Tage zuvor erste Schritte zu einem Kurswechsel unternommen hat.

Führende Köpfe Pakistans aus Gesellschaft, Militär und Geheimdienst kamen drei Tage vorher zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen, in der Sharif und seine Minister anmahnten, wesentliche Elemente des zwei Jahre alten nationalen Maßnahmenplans zur Beseitigung von politischer Gewalt und religiösem Fundamentalismus seien immer noch nicht umgesetzt.

Der Maßnahmenplan sieht vor, bestimmte Gruppen zu verbieten, Religionsschulen zu reformieren und die Nationale Behörde zur Terrorismusbekämpfung („National Counter Terrorism Authority“ / NACTA) zu stärken. Der 20-Punkte-Plan wurde nach dem Angriff auf eine Militärschule in Peschawar im Dezember 2014 verabschiedet. Damals kamen 141 Menschen ums Leben, darunter 132 Schüler.

Außenminister Aizaz Ahmad Chaudhry wies während der Sitzung unmissverständlich darauf hin, dass Pakistan Gefahr laufe, international isoliert zu werden, sollte es dem Land nicht gelingen, militante Gruppen zu entmachten, wie beispielsweise Jaish-e Mohammed, Lashkar-e Taiba und das Haqqani-Netzwerk. Alle diese Gruppen werden von den Vereinten Nationen als terroristisch eingestuft.

Chaudhry erinnerte daran, dass Pakistans engster Verbündeter China weiterhin die UN-Sanktionen gegen Masood Azhar blockiere, den Anführer von Jaish-e Mohammed, aber mittlerweile seine eigene Position überdenke. China unterstützt Pakistan mit Infrastrukturinvestitionen in Höhe von 46 Mrd. Dollar.

Das Gericht vertagte die Verhandlung wegen Befangenheit eines Richters: Dieser war auch am Verfahren gegen den Mörder des Regierungschefs der Provinz Punjab, Salman Taseer, beteiligt. Taseer wurde 2011 von seinem Leibwächter Mumtaz Qadri erschossen, einem ehemaligen Angehörigen einer Elite-Polizeieinheit. Taseer war erklärter Gegner der drakonischen Blasphemiegesetze und unterstützte die Freilassung von Asia Bibi.

Der Attentäter Mumtaz Qadri wurde von Fundamentalisten als Held gefeiert: Nach Vollstreckung des Todesurteils strömten Zehntausende von Menschen auf die Straßen von Islamabad. Vor diesem Hintergrund fürchten die Behörden jetzt, ein Urteil zugunsten von Asia Bibi könnte Massenunruhen auslösen.

Protesters in Pakistan demonstrate against blasphemy laws (photo: APM A)
Pakistans Menschenrechtsaktivisten fordern schon lange eine Gesetzreform, weil der Blasphemie-Paragraph immer wieder für Racheakte und Behördenwillkür missbraucht wird. Doch alle Versuche, das Gesetz zu ändern, scheiterten stets am Widerstand religiöser Hardliner. Das Blasphemie-Gesetz sieht bei Gotteslästerung unter anderem die Todesstrafe vor. Das islamische Land hat bislang jedoch niemanden wegen Blasphemie hingerichtet. Allerdings bedeutet bereits der Vorwurf der Gotteslästerung Lebensgefahr. Immer wieder kommt es in solchen Fällen zu Lynchjustiz und Rachemorden.

Die aktuelle Vertagung verschiebt letztlich nur eine mögliche Konfrontation. Eine Konfrontation, die seit Langem ansteht. Denn die Blasphemiegesetze sind das Ergebnis der jahrzehntelangen politischen und finanziellen Einflussnahme der Saudis und deren Bemühungen um eine Beschneidung der Meinungsfreiheit und der freien Medien über die eigenen Landesgrenzen hinaus.

Der öffentliche Diskurs wird erstickt

Die Saudis profitierten nach 9/11 von einem globalen Trend zur Einschränkung der Meinungsfreiheit in Demokratien und Autokratien gleichermaßen. "Die Blasphemiegesetze zerstören die letzten Reste des Pluralismus", warnt die pakistanische Forscherin Nazish Brohi.

Unter dem Vorwurf der Gotteslästerung werden in Saudi-Arabien Menschen hingerichtet, die sich nicht öffentlich zur engen wahhabitischen Auslegung des Islam bekennen. In Bangladesch laufen atheistische Blogger Gefahr, mit Macheten erschlagen zu werden. Dschihadisten versuchen, jeden Diskurs zu ersticken, indem sie diejenigen ermorden, die angeblich ihre religiösen Gefühle verletzen.

Die Aufsichtsbehörde für elektronische Medien in Pakistan setzte dieses Jahr während der Fastenzeit zwei Fernsehsendungen ab, weil diese die Blasphemiegesetze des Landes sowie die Verfolgung der Ahmadiyya thematisierten. Die Ahmadiyya ist eine islamische Religionsgemeinschaft, deren Lehre von Fundamentalisten als Häresie verurteilt wird.

Der Vorstoß Saudi-Arabiens und anderer islamischer Staaten, Gotteslästerung im internationalen Recht unter Strafe zu stellen, legitimiert Einschränkungen der Meinungsfreiheit und fördert die Intoleranz unter Muslimen gegenüber einem offenen Glaubensdiskurs. Der Vorschlag markiert den Gipfel einer jahrelang von den Saudis in anderen Ländern betriebenen Kampagne zur Kriminalisierung von Gotteslästerung und jeder Kritik am Propheten Mohammed.

Dieser Vorstoß ist auch eine Reaktion des saudischen Königreichs auf anti-muslimische Ressentiments und auf die wachsende Islamophobie. Auslöser dafür waren die Attentate des IS in Europa und im Nahen Osten – sei es in Paris, Ankara oder Beirut – das Attentat auf ein russisches Flugzeug oder die fundamentalistische Auslegung des Islams und die massiven Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien selbst.

Die Kriminalisierung der Gotteslästerung und die Rechtfertigung der Selbstjustiz finden auch an westlichen Hochschulen ihren Widerhall in Kampagnen zur Durchsetzung des Rechts auf Schutz gegen die Verletzung religiöser Gefühle. Beide Vorstöße treten für eine Beschneidung der Meinungsfreiheit und eine willkürliche Reglementierung dessen ein, was gesagt und was nicht gesagt werden darf.

Mit einem ausführlichen Beitrag in einer Zeitung seines Landes ging Murtada Muhammad Gusau, leitender Imam von zwei Moscheen in der nigerianischen Stadt Okene, auf die von Saudi-Arabien inspirierten Kampagnen wegen angeblicher Gotteslästerung ein. Er zitierte mehrere Verse aus dem Koran, die für Geduld und Toleranz werben und die die Tötung derjenigen ablehnen, die den Propheten Muhammed beleidigen oder beschimpfen.

Historischer Präzedenzfall

Der saudische Aktivismus gegen Blasphemie und die Bemühungen zur Beschneidung der Pressefreiheit gehen bis auf das Jahr 1980 zurück, als die Saudis mit finanziellen Anreizen und politischem Druck erfolglos versuchten, die Ausstrahlung des britischen Fernsehstücks "Death of a Princess" zu verhindern. In dieser wahren Geschichte geht es um eine saudische Prinzessin und den Sohn eines Generals, die beide wegen Ehebruchs öffentlich hingerichtet wurden.

Mit dem Hinweis auf "die negative Haltung der britischen Regierung gegen die Ausstrahlung dieses beschämenden Films" wies Saudi-Arabien damals Großbritannien an, seinen Botschafter James Craig abzuberufen.  Die Saudis verhängten zudem Einreisebeschränkungen gegen Führungskräfte britischer Unternehmen und forderten US-Bauunternehmen auf, keine britischen Firmen als Subunternehmer zu beschäftigen.

Auch entzog Saudi-Arabien "British Airways" (BA) die Überflugrechte für deren Concorde-Maschinen auf der Strecke von London nach Singapur. In Verbindung mit einem weiteren Überflugverbot des Libanon wurde BA damit gezwungen, einen Umweg zu wählen, der den Gewinn mit den Überschallflugzeugen auf dieser Strecke aufzehrte.

Im Fall Asia Bibi geht es im Grundsatz um Gerechtigkeit und Meinungsfreiheit ebenso wie um die zukünftige Entwicklung von Staat und Gesellschaft Pakistans. Auch Saudi-Arabien setzt sich mit diesen Themen auseinander. Beide Staaten erkennen, dass ihre bisherige geopolitische Erfolgsstrategie international zunehmend zur politischen Belastung wird. Den bisherigen Kurs zu revidieren, ist leichter gesagt als getan und eine Mission, die beide Länder auf eine riskante Reise schickt.

James M. Dorsey

© Qantara.de 2016

James M. Dorsey ist Senior Fellow an der S. Rajaratnam School of International Studies der Nanyang Technological University in Singapur, Co-Direktor des Instituts für Fankultur an der Universität Würzburg, Autor des Blogs The Turbulent World of Middle East Soccer sowie eines unter demselben Titel kürzlich erschienenen Buches und neben Dr. Teresita Cruz-Del Rosario Mitverfasserin des Buchs Comparative Political Transitions between Southeast Asia and the Middle East and North Africa: Lost in Transition (The Modern Muslim World).

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers