Ein Wendepunkt der Geschichte?

Die meisten Selbstmordattentäter des 11. September kamen aus Saudi-Arabien. Auch in dem Land selbst kam es zu einer Reihe von Bombenattentaten. Nun versucht das saudische Königshaus einen vorsichtigen Reformkurs einzuschlagen. Ein Bericht von Joseph Croitoru.

Die meisten Selbstmordattentäter des 11. September kamen aus Saudi-Arabien. Auch in dem Land selbst kam es zu einer Reihe von Bombenattentaten mit tödlichen Folgen. Nun versucht das saudische Königshaus einen vorsichtigen Reformkurs einzuschlagen. Ein Bericht von Joseph Croitoru.

Kronprinz Abdallah von Saudi-Arabien, Foto: AP
Kronprinz Abdallah von Saudi-Arabien

​​In letzter Zeit mehren sich die Zeichen, dass Saudi-Arabien, ein weitgehend abgeschottetes Land, an einem Wendepunkt seiner Geschichte steht. Zum einen ist das saudische Königshaus seit den Anschlägen des 11. September massiver Kritik seitens des Westens ausgesetzt, wo sich Empörung darüber breit gemacht hatte, dass der Großteil der Todespiloten aus Saudi-Arabien stammte.

Zum anderen gerät die Herrscherfamilie Saud auch innenpolitisch immer stärker unter Druck, wofür die Selbstmordattentate, die das Land seit Mai 2003 immer wieder erschüttern, nur ein Beispiel sind.

Fragiles Gleichgewicht der Stämme

Die Antwort auf die berechtigte Frage, was diese Attentate mit denen des 11. September verbindet, ist nicht zuletzt in den Herrschaftsstrukturen des saudischen Königreichs zu suchen: Dieses basiert auf dem Erhalt des empfindlichen Gleichgewichts zwischen den zahlreichen Stämmen des Landes, an deren Spitze die jetzigen Herrscher aus dem Hause Saud stehen.

Deren Nähe zu den Vereinigten Staaten wird indes längst nicht von allen saudischen Stammesführern gern gesehen. Diese Schwachstelle im saudischen Herrschaftssystem scheint der Ex-Saudi Usama Bin Ladin erkannt zu haben, und seine Al-Qaida-Organisation lässt nichts unversucht, die weniger regimetreuen Stämme aus dem Südwesten gegen die Königsfamilie und deren Verbündete im Land auszuspielen.

Man erinnere sich: Nicht weniger als zwölf der insgesamt fünfzehn saudischen Täter des 11. September kamen aus dem Südwesten der arabischen Halbinsel, allein fünf von ihnen aus dem dort ansässigen Al-Ghamid-Stamm.

Letzterem gehörten beispielsweise auch die Drahtzieher der Riad-Attentate vom vergangenen Mai an. Und dass sich die Bombenattentate im wesentlichen auf die saudische Hauptstadt und ihre Umgebung konzentrierten, signalisiert, dass der Herrschaftsanspruch der Saud-Familie, die in diesem Gebiet ihre Wurzeln hat, untergraben werden soll.

Massenvernichtungswaffen im Kampf gegen die Ungläubigen

In Riad ist diese Botschaft mittlerweile angekommen. Unlängst wurde Faisal Bin Abdallah, bis dahin zuständig für die saudische Nationalgarde im Westen des Landes, zum Stellvertretenden Geheimdienstchef des Landes ernannt. Seine Beförderung zeigt, welche politische Brisanz der Südwesten, in dem einst auch Bin Laden beheimatet war, für die Regierung mittlerweile hat.

Dieser Region entstammen auch drei militante Religionsgelehrte aus den Kreisen der so genannten Dschihadisten, die unlängst in der Stadt Medina verhaftet wurden. Einer von ihnen, Nasser Hamd al-Fahd, hatte kurz zuvor propagiert, dass die heiligen Krieger des Islam das Recht hätten, im Kampf gegen die Ungläubigen Massenvernichtungswaffen einzusetzen. In der von ihm erlassenen Fatwa betonte Al-Fahd ausdrücklich, dass für den wahren Muslim das internationale Recht, das die Verwendung von Massenvernichtungswaffen verbiete, keine Gültigkeit und er sich darüber hinwegsetzen habe: Einzig und allein vor Gott und dem islamischen Religionsgesetz hätten die Gläubigen sich zu verantworten.

Erste Anzeichen von Reformen

Dass diesen neuen Herausforderungen nicht mehr nur mit verstärkten Sicherheitsmaßnahmen zu begegnen ist – saudische Oppositionelle in London prangern sie als Menschenrechtsverletzungen an –, scheint man in Riad erkannt zu haben. Zunehmend bemüht sich das Regime um ein liberales Image und zeigt neuerdings auch Reformwillen.

Erste Anzeichen für diesen Wandel werden etwa in der Informationspolitik der Regierung sichtbar, die verstärkt auch auf das Medium Internet setzt. So dürfen sich die zahlreichen Stämme im Land seit einiger Zeit im virtuellen Netz präsentieren, womit nach außen kulturelle Vielfalt und Pluralismus demonstriert werden sollen. Bezüglich der Wirkung nach innen hofft man offenbar, damit das Selbstwertgefühl manch eines arbeitslosen und frustrierten jungen Stammesangehörigen aufzubauen, um ihn so für islamischen Radikalismus vielleicht weniger empfänglich zu machen.

Internet für die Stämme

So kann sich der durch Terroranschläge in Verruf geratene Al-Ghamid-Stamm, der mehrere kleine Stämme vereinigt und insgesamt etwa zweihunderttausend Angehörige hat, über mangelndes Interesse an seiner Internetseite nicht beklagen. Auch wenn sich die Besucher der Website über diese Entwicklung begeistert zeigen, bergen diese Präsentationen nicht selten auch Konfliktpotential, so etwa, wenn manch ein Besucher sich darüber aufregt, dass sein Dorf dem Einflussgebiet eines benachbarten Stammes zugerechnet worden ist.

Internen Spannungen versucht das saudische Herrscherhaus mit dem Slogan "nationale Einheit" zu begegnen, die von den Ministern der königlichen Familie derzeit bei nahezu jedem öffentlichen Anlass beschworen wird.

"Maßlosigkeit" als Synonym für Terror

So etwa auf der "Konferenz für den nationalen Dialog", eine Veranstaltungsreihe, zu der Kronprinz Abdallah unlängst prominente saudische Intellektuelle und Religionsgelehrte eingeladen hatte und die mittlerweile bereits in die zweite Runde gegangen ist. Dabei diente neben dem Streben nach nationaler Einheit die "Bekämpfung der Maßlosigkeit" – von der neuen Radikalität oder gar Terror wollten die Machthaber hier nicht sprechen – als Motto der Konferenz, das Kronprinz Abdallah bereits in seiner Eröffnungsrede vorgegeben hatte: Dieser müsse man mit Gemäßigtheit entgegentreten, mit jenem Geist also, der dem Islam eigen sei.

Da die Sitzungen der Konferenz unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden, drang von den dort diskutierten Inhalten allein das nach außen, was von den staatlich gelenkten Medien verbreitet wurde. So griff im saudischen Rundfunk Khalil Bin Abdallah al-Khalil, Dozent für Sozialwissenschaften und prominenter regimetreuer Publizist, Kronprinz Abdallahs Worte von der Maßlosigkeit als das gegenwärtig brisanteste Problem Saudi-Arabiens auf. Er unterstrich, dass dem nur mit einem umfassenden politischen wie kulturellen Dialog innerhalb der saudischen Gesellschaft zu begegnen sei, den die Herrschenden ausdrücklich wünschten: "Das Gespräch ist die Voraussetzung für jedes gegenseitige Verständnis und für jeden Fortschritt".

Auch im Vokabular al-Khalils fehlte nicht das Zauberwort "nationale Einheit" – sie sei, so der Publizist, die Grundvoraussetzung für Stabilität und eine bessere Zukunft. Auf der Konferenz, so war in der saudischen Presse zu lesen, wurde der Patriotismus beschworen, der vor allem unter den jungen Saudis gestärkt werden müsse. Geboten sei auch mehr Toleranz gegenüber Minderheiten sowie mehr Umsicht beim erzieherischen Umgang mit der Lehre vom Heiligen Krieg im Islam.

Neue Rolle der saudischen Frau

Auch den Frauen gegenüber gibt es Signale zur Reformbereitschaft. Symptomatisch für diese Tendenz war auf besagter Konferenz Kronprinz Abdallahs Äußerung, "die Frau ist sowohl Mutter als auch Schwester, Ehefrau und Tochter und hat im Islam besondere Rechte".

Dass auch einige Universitätsdozentinnen an der Konferenz teilnahmen, ist die direkte Fortsetzung einer neuen Politik, in deren Rahmen seit einiger Zeit vermehrte öffentliche Auftritte von Frauen der königlichen Familie zu verzeichnen sind, unter deren Schirmherrschaft frauenspezifische Veranstaltungen organisiert werden, etwa im Rahmen von nationalen Kultur- und Folklorefestivals. Auch kommen in der staatlichen saudischen Presse immer häufiger Dichterinnen und Schriftstellerinnen zu Wort.

Staatlich verordneter Feminismus

Nichtsdestotrotz drängt sich der Eindruck auf, hier werde ein staatlich verordneter Feminismus in eine für das Regime nützliche Bahn gelenkt. Derartige Entwicklungen können jedoch, wie das Beispiel Iran gezeigt hat, nur eine Zeitlang unter Kontrolle gehalten werden: Schon regt sich Widerstand, und eine aufsässige Leserin verlangt von der Redaktion der als eher progressiv geltenden saudischen Tageszeitung "Al-Watan" (Das Vaterland) eine Erklärung, weshalb saudische Frauen unbedingt einen schwarzen Schleier tragen müssten. Und in einem Chatforum für saudische Frauen appelliert eine der Diskussionsteilnehmerinnen an ihre Mitdiskutantinnen, endlich damit aufzuhören, für die Probleme der Muslime stets andere verantwortlich zu machen.

Ob in Saudi-Arabien bald iranische Verhältnisse herrschen und die saudischen Frauen mehr Rechte einfordern werden? Auch hier scheint man sich in Riad zu bemühen, am Puls der Zeit zu sein. Vor kurzem hieß es aus Regierungskreisen, es werde über die Gründung einer Frauenpolizei nachgedacht. Ob und wann es dazu kommen und ob es nicht nur bei reformerischen Absichtserklärungen bleiben wird, wird die Zukunft zeigen: Bewegung ist in die saudische Innenpolitik allemal gekommen.

Joseph Croitoru

© Qantara.de 2004

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