Weg vom "Terroristen-Image"

Nach den schweren Anschlägen kämpft Belgien gegen die islamistische Radikalisierung. Zur politischen Prävention mischen sich auch Kunst und Humor. Wie reagieren die Menschen auf die Aktion? Antworten von Doris Pundy aus Brüssel

Von Doris Pundy

Eine spielerische Annäherung beim Fotoshooting im Brüsseler Stadtteil Molenbeek: Der Maler Samuel Vanderveken trägt einen schlichten grauen Wollpulli und Jeans. Sein Freund Nikita Imambajev rechts neben ihm hat einen Tschapan an, den traditionellen Übermantel muslimischer Usbeken. Beide haben dunkle Haare und Vollbärte und sehen sich ziemlich ähnlich. Sie posieren mit verschränkten Armen, dann kommt der Rollentausch. Etwas zögernd aber mit einem breiten Lächeln legt sich Vanderveken den Tschapan um und wird mit wenigen Handgriffen zum Muslim. Die Verwandlung scheint perfekt.

"Ich geniere mich Muslim zu sein"

Beide nehmen an einer Kunstaktion des Kollektivs "Get me" teil. Der Kleidertausch soll Vorurteile zwischen Nicht-Muslimen und Muslimen aufbrechen. Die beiden Kreativen arbeiten in Brüssels notorischem Problemviertel Molenbeek. Sie sind jung und modebewusst und passen perfekt in die Schublade "Hipster". Vanderveken ist Atheist und gebürtiger Belgier. Imambajev kommt aus Usbekistan, betreibt ein Nachrichtenportal und ist gläubiger Muslim.

"Wenn ich mich vorstelle, sage ich eigentlich nie, dass ich Muslim bin", erklärt der Journalist. "Ich geniere mich dafür. Ich habe Angst davor, mein Gegenüber damit in eine unangenehme Situation zu bringen. Und dann geniere ich mich dafür, dass mich das geniert", sagt der 28-jährige. Er nimmt an diesem Projekt teil, um das Muster der Erwartungen aufzubrechen. Er will zeigen, dass eine Person auch mehrere Identitäten haben kann und "Muslim" nur eine davon ist.

Der 28-jährige Journalist  Nikita Imambajev aus Usbekistan; Foto: DW
Vorurteile zwischen Nicht-Muslimen und Muslimen aufbrechen: Der 28-jährige Journalist Nikita Imambajev aus Usbekistan will zeigen, dass eine Person auch mehrere Identitäten haben kann und "Muslim" nur eine davon ist.

Projektideen, wie jene für den Kleidertausch zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, landen zuerst auf dem Schreibtisch von Sarah Turine. Sie ist die Jugend- und Integrationsbeauftragte Molenbeeks. In der Gemeinde versuchen sie alles, um das "Terroristen-Image" des Viertels abzuschütteln, das seit den Anschlägen von Paris und Brüssel an ihm haftet. Die Drahtzieher der Attentate waren in dem Stadtteil aufgewachsen oder hatten hier gelebt.

Knackpunkt Zusammenleben

Sarah Turine hat Mühe zusammenzufassen, was sich in den letzten zwei Jahren in Molenbeek alles getan hat. "Die Anschläge waren ein richtiger Katalysator", sagt die Bezirkspolitikerin. Zwar hätte es schon vor den Attentaten zahlreiche, sehr aktive Vereine in Molenbeek gegeben, aber die Bereitschaft der einzelnen Gruppen und Kulturgemeinden, sich auszutauschen, wäre seither stark gestiegen. "Ein richtiges Zusammenleben ist aber noch nicht entstanden", fügt Turine hinzu.

Trotz erster Annäherungen gibt es keine Entspannung. "Bei der Bekämpfung der Radikalisierung stehen wir immer noch am Anfang." Um jene Jugendlichen zu erreichen, die sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen und anfällig für radikal-islamistische Ideen sind, brauche es gezielte Maßnahmen, die über bunte Projekte wie den Kleidertausch hinausgehen. Aber dafür reiche ihr Budget oft nicht aus, so Turine. Das harte Durchgreifen der belgischen Regierung und die Stigmatisierung des Viertels nach den Anschlägen machen sich weiter bemerkbar: "Selbst wenn die sich nicht alle in die Luft sprengen werden, heißt das nicht, dass sie sich besser anerkannt fühlen als vor zwei Jahren."

Die Bezirkspolitikerin Sarah Turine; Foto: DW
"Bei der Bekämpfung der Radikalisierung stehen wir immer noch am Anfang", sagt Bezirkspolitikerin Sarah Turine. Sie macht macht die Regierung in Brüssel dafür verantwortlich, den Vertretern vor Ort ausreichend Geld zur Verfügung zu stellen, um wirklich etwas zu erreichen.

Die Religion sei immer nur ein Faktor von vielen, warum sich eine Person radikalisiert, erklärt Michael Dantinne, Leiter des Studienzentrums für Terrorismus und Radikalisierung an der Universität Liège. Vor allem Arbeitslosigkeit, mangelnde Integration und fehlgeschlagene Städteplanung würden Menschen in die Radikalität treiben.

"Diese Probleme gibt es in Belgien aber schon seit 20, 25 oder gar 30 Jahren", sagt der Politologe. Das mache es jetzt umso schwieriger, die Ursachen der Radikalisierung effektiv zu bekämpfen. "Wichtig ist es vor allem, die Mischung der Gesellschaftsschichten in Belgien voran zu treiben", sagt Dantinne. Das helfe Konfliktherde wie in Molenbeek zu bekämpfen und sei das effektivste Mittel gegen die Radikalisierung.

Zäher Kampf gegen die Radikalisierung

Die Fotoausstellung zum Kleidertausch zwischen Molenbeeker Kreativen und Muslimen findet vor dem Opernhaus mitten in Brüssel statt. Der Ort ist bewusst gewählt und soll Molenbeek ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Einige der Teilnehmer sehen sich zum ersten Mal seit dem Fotoshooting wieder. Sie begrüßen sich überschwänglich, tauschen Küsse und Umarmungen. Beim Anblick ihrer Fotos ist die Freude groß. Im kleinen Kreis scheint die Annäherung zwischen den beiden Gruppen schon geklappt zu haben.

Das Molenbeeker Rathaus (links echt, rechts als Graffiti); Foto: DW
Brüssels notorisches Problemviertel Molenbeek: In der Gemeinde versuchen sie alles, um das "Terroristen-Image" des Viertels abzuschütteln, das seit den Anschlägen von Paris und Brüssel an ihm haftet. Die Drahtzieher der Attentate waren in dem Stadtteil aufgewachsen oder hatten hier gelebt.

"Kommen eigentlich auch Leute aus dem Viertel in dein Atelier?", will der Journalist und Muslim Imambajev vom Maler Vanderveken wissen. "Naja, nicht wirklich", räumt der Künstler zögerlich ein. "Die Atelierbetreiber versuchen das immer wieder, aber das braucht halt Zeit." "Hoffentlich steigen nicht nur die Mieten, wenn junge Leute nach Molenbeek ziehen", gibt Imambajev zu bedenken. Beide hoffen, dass die verschiedenen Gruppen in Zukunft friedlich zusammenleben können.

Die Bezirkspolitikerin Sarah Turine macht die Regierung dafür verantwortlich, den Vertretern vor Ort nicht ausreichend Geld zur Verfügung zu stellen, um wirklich etwas zu erreichen. Auch der Politikprofessor Michael Dantinne sieht die Politik gefordert. Erfolge im Kampf gegen die Radikalisierung könnten sich frühestens in fünf oder zehn Jahren abzeichnen, so der Politologe. Die Ursachenbekämpfung brauche einen starken Willen. "Wir brauchen eine Politik, die extrem teuer ist und sehr lange dauert. Aber das ist der einzige Ausweg", so der Politologe.

Doris Pundy

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