Die Hinrichtung des Todes

In dem auf Deutsch neu erschienenem Kurzgeschichtenband verurteilt der syrische Autor Sakarija Tamer die Brutalität in der arabischen Gesellschaft. Larissa Bender stellt die oft grotesk anmutenden Geschichten vor.

Sakarija Tamer, Foto: Larissa Bender
Sakarija Tamer

​​Ein beleibter Polizist betritt einen Friedhof und ruft nach Umar al-Chajjam, dem bekannten persischen Dichter und Gelehrten aus dem 11. Jahrhundert, um ihn zu einer Gerichtsverhandlung vorzuladen.

Da dieser sich nicht rührt, beschließen die Behörden, den Dichter mit Gewalt aus seinem Grab zu holen und dem Richter vorzuführen.

Der Vorwurf: Umar al-Chajjam habe den Wein verherrlicht und zu dessen Genuss aufgerufen; dies sei deshalb sträflich, da das Land keinen Wein produziere, der Aufruf zum Weintrinken also gleichzeitig ein Aufruf zur Steigerung des Imports ausländischer Waren sei.

Nachdem einige Zeugen befragt werden, wird der Dichter für schuldig befunden und mit einem Verbot des Gedichtschreibens belegt. Dann bringt man ihn zurück in sein Grab.

Willkür anprangern

Solche und andere höchst absurde Geschichten aus der Feder des bekanntesten syrischen Kurzgeschichtenautors Sakarija Tamer bietet der im Schweizer Lenos-Verlag erschienene Band "Die Hinrichtung des Todes – Unbekannte Geschichten von bekannten Figuren".

Bekannte Figuren, das sind etwa Sindbad, der Seefahrer, Scheherezade oder der Abbasiden-Kalif Harun al-Raschid, die das deutsche Lesepublikum aus Tausendundeine Nacht kennt, aber auch Dschingis Chan, Hülägü oder Tamerlan.

Durch die Bezugnahme auf diese historischen oder legendären Figuren, deren menschliche wie unmenschliche Seiten in den Geschichten zutage treten, will Sakarija Tamer, wie er selbst sagt, "die Welt bereichern".

In einer Kultur, die offene Kritik an den herrschenden politischen und gesellschaftlichen Zuständen nicht zulässt, dienen dem Syrer Tamer diese Figuren dazu, Willkür, Machtmissbrauch und Günstlingswirtschaft anzuprangern.

Anspielungen auf die Gegenwart

Da ist etwa Tariq ibn Sijad, der Anfang des 8. Jahrhunderts mit seinem Heer auf die Iberische Halbinsel übersetzte und damit die über sechs Jahrhunderte währende Herrschaft der Muslime in Spanien einleitete.

In einer der Geschichten wird Tariq ibn Sijad verhaftet und der Vergeudung staatlicher Mittel angeklagt, weil er ohne Genehmigung seine Schiffe verbrennen ließ, um seinem eigenen Heer den Rückzug abzuschneiden.

Die Ankläger, Willfährige eines Willkürregimes aber hatten selbst nicht einmal am Eroberungskrieg teilgenommen – eine Anspielung auf die Diskussionen nach der Niederlage der arabischen Staaten im Krieg gegen Israel im Jahre 1967.

Oder Hülägü, ein Enkel Dschingis Khans, der von seinem Hofnarr und seinem Minister unterhalten werden möchte. Als sie ihm von einer Stadt namens Beirut erzählen, in der es Freiheit, Presse, Parteien und Verlage gibt, entschließt er sich sogleich, die Stadt am nächsten Tag zu zerstören und ihre Bewohner niederzumetzeln.

Doch Hülägü stirbt am folgenden Tag. Die Stadt entkommt "dennoch nicht ihrer Zerstörung, der Knechtschaft und dem Mord – durch die Hand von Männern, die, so heißt es, Hülägü weit überlegen waren".

Tiere sind klüger als die Menschen

Zerstörung, Grausamkeiten, Mord – dies sind neben der Ohnmacht des gedemütigten 'kleinen Mannes' angesichts einer von Geheimdiensten und Polizisten gestützten übermächtigen Herrschaft zentrale Themen in Sakarija Tamers gesamtem Werk.

"Wer nachzudenken wünscht, soll nachdenken, wie es ihm beliebt. Das Nachdenken ist nicht verboten, solange das Schwert stärker ist. Und ich bin es, der das Schwert besitzt", so etwa der Kalif Abu Dschaafar al-Mansur aus dem 8. Jahrhundert in einer Geschichte über den berühmten persischen Schriftsteller und Übersetzer Ibn al-Mukaffaa.

Und immer werden die Grenzen von Raum und Zeit, von Realität und Traum aufgehoben. Tote werden vor Gericht gezerrt und verurteilt, sie sprechen und mitunter nehmen sie an ihrer eigenen Beerdigung teil. Auch die Tiere sind der Sprache mächtig und häufig – oft sind es gerade die Esel - klüger als der Mensch.

"Arabische Realität ist viel grausamer"

Sakarija Tamer, der 1931 in Damaskus geboren wurde und im Alter von 13 Jahren die Schule verließ, um zunächst als Schmied zu arbeiten, begann 1957 zu schreiben. Seit 1960 widmete er sich ausschließlich der Schriftstellerei.

Mit seinem ersten Kurzgeschichtenband "Das Wiehern des weißen Pferdes" wurde er sofort berühmt. Sein Gesamtwerk besteht heute aus über 200 Geschichten, von denen einige unter dem Titel "Frühling in der Asche" bereits 1987 im Lenos-Verlag erschienen sind.

Auf die Frage, warum seine Protagonisten häufig so brutal und grausam seien, antwortete Tamer einmal in einem Interview: "Die Brutalität ist in unseren Ländern eine Tatsache, und all jene, die mich deshalb kritisiert haben, sind still geworden, denn die arabische Realität ist viel grausamer als alle meine Geschichten".

Diese Grausamkeiten waren es auch, die Tamer, den Vater der modernen arabischen Kurzgeschichte, im Jahre 1981 dazu veranlassten, seinem Heimatland den Rücken zu kehren. Er lebt seitdem in England.

Larissa Bender

Sakarija Tamer:Die Hinrichtung des Todes - Unbekannte Geschichten von bekannten Figuren
Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich und Ulrike Stehli-Werbeck
Lenos Verlag, Basel 2004