Islamische Tradition ist älter als die Orthodoxe

Fünf Jahre nach dem Exiltod des Autors Mark Batunskij ist nun die erste umfassende Monografie zum Islam in Russland erschienen. Gasan Gusejnov berichtet von der Buchpräsentation im Lew-Kopelew-Forum, Köln.

Bild: Progress-Tradition Verlag Progress-Tradition, Moskau
Mark Batunskij

​​Der Abend des 23. Oktobers war im Lew-Kopelew-Forum am Kölner Neumarkt einer ganz besonderen Form des Dialogs mit dem Islam gewidmet. Anlass war eine besondere Buchpräsentation und die Würdigung eines Wissenschaftlers, dessen Biographie und Werk merkwürdigerweise Deutschland, Russland und die islamische Welt verbindet. Der Name des Autors ist Mark Batunskij. Geboren 1933 in der Ukraine in einer jüdischen Familie, wurde er 1941 nach Usbekistan evakuiert.

In Taschkent schulte Batunskij seinen wissenschaftlichen Blick als aufmerksamer Beobachter der sowjetischen Unterdrückung des Islams in Zentralasien sowie der Tradition des Widerstandes, der sich diesem Druck zäh widersetzte. Im Anschluss wurde Batunskij nach Moskau umgesiedelt, wo er in den 70er und 80er Jahren zu einem der führenden sowjetischen Islamwissenschaftler avancierte. Dann, nach der politischen Wende, siedelte er 1993 nach Deutschland über, wo er 1997 starb.

Gespaltene Wahrnehmung des Islam in russischer Gesellschaft

Batunskijs Publikationsliste ist lang, sein Hauptwerk aber „Russland und Islam“ seine dreibändige Studie über die Wahrnehmung des Islam von Seiten des russischen Staates und der russischen Gesellschaft –, konnte erst posthum erscheinen, fünf Jahre nach seinem Tod. Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass der Forscher seine letzten vier Jahre nicht in Russland, sondern in Deutschland tätig war.

So war das Treffen im Lew-Kopelew-Forum in Köln nicht nur eine Würdigung, sondern auch ein Versuch, die Ergebnisse seiner Arbeit im relevanten Kontext darzustellen. Eine Besonderheit an Batunskijs Werk schilderte sein russischer Verleger Boris Oreschin (Progress-Tradition Verlag Progress-Tradition, Moskau), indem er auf die tragische Widersprüchlichkeit der Islam-Wahrnehmung in Russland hinwies.

Einerseits, sagte Oreschin, analysiert Batunskij die Ablehnung des Islams seitens großer Teilen der russischen Gesellschaft. Andererseits wies Oreschin darauf hin, dass Batunskij dem hohen Grad der Toleranz der Akzeptanz des Islam in Russland mehrere Seiten seiner Studie gewidmet hat. Gerade in einer Zeit, in der die Gesellschaft mit religiösen Konflikten schmerzlich zu ringen hat, sei es besonders nützlich, Batunskijs Buch als Beweis dafür zu anzusehen, dass im heutigen Russland zumindest auch Ansätze für einen Dialog mit dem Islam zu erkennen sind.

Vom Kopelew-Forum eingeladen war des Weiteren ein Kollege Batunskijs – der deutsche Osteuropahistoriker und Politologe Gerhard Simon, der Batunskij in den 1990er Jahren in Köln kennen gelernt hatte. Simon urteilte, dass Batunskijs Integrität es ihm erlaubt hätte, zuvorderst seine Erfahrungen aus Usbekistan in der wissenschaftlichen Arbeit umzusetzen, anstatt seine Kenntnisse kritiklos im Dienst der ideologischen Propaganda zu missbrauchen.

Russlands Islamische Tradition ist älter als die Orthodoxe

Batunskij war von der Kraft des Islams ebenso fasziniert wie von der Vielseitigkeit der Wahrnehmung dieser religiösen Tradition in Russland. Ins Zentrum von Batunskijs Interesse rückte immer wieder die Unterschätzung der Kräfte, die der Islam in der Lage ist zu mobilisieren.

Im Übrigen gibt es zwischen dem Islam und Russland weitreichendere Verbindungen als man gemeinhin annimmt: Die Islamische Tradition in Russland – einem Land, das im Westen als orthodox gilt –, ist die islamische Tradition ein Paar Jahrhunderte älter als das orthodoxe Christentum. Trotzdem wurde gerade politische Virulenz des Islams jahrzehntelang außer Acht gelassen.

Wie Batunskijs Witwe Eleonora, die das Manuskript für die vorliegende Ausgabe rettete, erzählte, hätte Batunskij die Sowjets mehrmals vorgewarnt – sowohl vor dem bevorstehenden Sieg der islamischen Revolution in Iran als auch vor den katastrophalen Folgen des Einmarsches der Sowjetarmee in Afghanistan. Im Übrigen sei es die unverschämte Tarnung eines kolonialen Krieges in Tschetschenien als eines Verteidigungskrieges gegen islamistische Terroristen, der Batunskij aus Russland gejagt habe, so Batunskijs Witwe.

Russlands großer Islamexperte ist ein Jude

Bei Batunskij sind die Verflechtungen des Biographischen mit dem Politischen faszinierend: als sowjetischer Jude schreibt er in Deutschland ein Buch über den Islam und dessen Wahrnehmung in Russland. Ein russischer Verleger gibt das dreibändige Werk heraus.

Während der Präsentation des Buches in Deutschland fällt die Frage einer deutschen Teilnehmerin der Veranstaltung im Lew-Kopelew-Forum: „Und wie haben die russischen moslemischen Gelehrten auf einen so wichtigen Beitrag zur gegenseitigen Verständigung reagiert?“ Einige hätten das Manuskript wohl rezipiert, aber alle seien derzeit zu beschäftigt mit einem politischen Spiel, so die Witwe. In solchen Spielen stand der Wissenschaftler Mark Batunskij immer auf verlorenem Posten.

Gasan Gusejnov © Qantara.de 2003