Ein "Gerechter unter den Völkern"

Ronen Steinke geht der Geschichte des ägyptischen Arztes Mohammed Helmy auf die Spur, der die Jüdin Anna Boros vor der Deportation schützte. Der Autor erinnert an eine waghalsige Rettung inmitten Nazideutschlands und widmet sich den oft ambivalenten Verstrickungen zwischen Juden und Muslimen. Von Ozan Keskinkilic

Von Ozan Keskinkilic

"Wer immer ein Menschenleben rettet, hat damit gleichsam eine ganze Welt gerettet." Der talmudische Satz aus dem Mischna-Traktat Sanhedrin findet sich auch im Koran fast wortgenau wieder und ziert seit mehreren Jahrzehnten die Medaillen der "Gerechten unter den Völkern". Mit dem Ehrentitel zeichnet die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem nichtjüdische Personen aus, die Juden während des Nationalsozialismus gerettet haben.

Der Ägypter Mohammed Helmy zählt seit 2013 zu den mittlerweile 25.000 geehrten Rettern. In die Liste fanden bis zu hundert Muslime Eingang, doch Helmy ist bislang der einzige Araber unter ihnen. Der Journalist und Autor Ronen Steinke hat seine Geschichte niedergeschrieben.

Der Sohn eines ägyptischen Armeemajors erreicht vor 95 Jahren Berlin. Mohammed Helmy studiert Medizin und beginnt 1930 als Assistenzarzt am Robert-Koch-Krankenhaus in Moabit zu arbeiten. Nur drei Jahre später wird er zum Oberarzt ernannt. Während jüdische Kollegen vertrieben werden, macht Helmy Karriere.

Die muslimische "Nichte aus Dresden"

Dem NS-Regime gaukelt der selbstbewusste Araber einen treuen Verbündeten vor, doch im Geheimen solidarisiert er sich mit Juden. Das im Krankenhaus neu eingesetzte NS-Personal weist er regelmäßig für ihre Misshandlungen an Patienten zurecht. Kollegen beschweren sich über sein "ausgesprochen orientalisches Wesen". In einer Petition protestieren sie dagegen, dass der "Hamit", wie sie ihn nennen, deutsche Frauen behandelt. Helmys Vertrag wird 1937 nicht mehr verlängert.

Buchcover Ronen Steinke: "Der Muslim und die Jüdin" im Berlin Verlag
Die Geschichte des „Gerechten unter den Völkern“ bietet allen die Chance, über den „eigenen“ historischen Tellerrand zu blicken und „unsere“ Geschichte und die "der Anderen" in ihren vielfältigen Verflechtungen anzuerkennen.

Er macht sich selbstständig. Bei einem Hausbesuch lernt er die von der Gestapo gesuchte Jüdin Anna Boros kennen. Während der ägyptische Arzt dem Regime Honig um den Mund schmiert, tüftelt er einen waghalsigen Rettungsplan aus und schützt Anna Boros vor der Deportation. Fortan heißt sie Nadja, trägt Kopftuch und assistiert Helmy in der Praxis.

Die muslimische "Nichte aus Dresden" fühlt sich unter dem Stück Stoff sicher. Mit der tatkräftigen Unterstützung anderer muslimischer Freunde und Mitstreiter spinnt Helmy ein dichtes Netz an Lügengeschichten und führt die Gestapo lange genug hinters Licht, bis die Rote Armee im April 1945 Berlin erreicht.

Eine fesselnde Erzählung

In "Der Muslim und die Jüdin" ist es Ronen Steinke gelungen, unterschiedliche Lebensstränge und Ereignisse in eine fesselnde Erzählung zu verdichten. Mit Gespür für das historische Detail bettet er die Geschichte der Protagonisten in ein breites Feld jüdisch-muslimischer Beziehungen ein.

Er berichtet von Liebschaften und Freundschaften, von den religiösen, kulturellen und philosophischen Verstrickungen zwischen Juden und Muslimen. Den subversiven Strategien und alltäglichen Aushandlungs- und Widerstandspraktiken verleiht er ein lebendiges Gesicht.

Und er gibt den Widersprüchen und Ambivalenzen den notwendigen Raum, die sich nicht zuletzt im nationalsozialistischen Deutschland abzeichnen. Die Strategie etwa, Muslime für Kriegszwecke zu instrumentalisieren, war nicht neu, fantasierte schon das Deutsche Reich im Ersten Weltkrieg von der "Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde". Doch das Bild des "guten", exotischen Orientalen, der, wie auch Steinke erwähnt, in "Völkerschauen" zur Belustigung ausgestellt wurde und sich der eigenen politischen Programmatik unterwerfen soll, folgt dem Prinzip seiner grundsätzlichen Ungleichheit.

Steinke erinnert an Auszüge aus der Hetzschrift "Mein Kampf", in denen Adolf Hitler über die "rassische" Minderwertigkeit der Araber sinnierte. Ihren antikolonialen Widerstand gegen Frankreich und Großbritannien bezeichnete er gar als "Koalition von Krüppeln".

Idealbild des "guten Arabers"

Helmys Leben ist von diesen Widersprüchen durchzogen: Einerseits "Hamit", dem aufgrund seiner "Rassen"zugehörigkeit keine "Ehefähigkeit" ausgewiesen wurde, um seine "arische" Verlobte heiraten zu können, andererseits unter NS-Führung zum Chefarzt ernannt und von der genozidalen Verfolgungsmaschinerie der Nazis aus politischem Kalkül verschont.

"Der Muslim und die Jüdin" erscheint zu einer Zeit, in der Debatten über "No-go-Areas" die jüdisch-muslimische Begegnung überschatten. "So nah sich Juden und Muslime einst waren, so fern scheinen sie sich heute zu sein", resümiert Steinke und verfällt mitunter einem romantischen Idealbild des "guten Arabers" der Vergangenheit.

Die Sehnsucht nach dem alten arabischen Berlin der Weimarer Zeit, "das gebildet, fortschrittlich und alles andere als judenfeindlich war", konstruiert – ob gewollt oder nicht – den gegenwärtigen Araber pauschal zum historischen Gegenpol, ungebildet, unfortschrittlich und judenfeindlich.

Es verwundert kaum, dass rechtspopulistische Akteure wie die AfD sich gerne an der Abstraktion des "Muslims" bedienen, die "ihn" kollektiv zur Bedrohung jüdischen Lebens und der hiesigen gesellschaftlichen Ordnung erklären, um Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.

Jüdischer Bürger Berlins betet in der Synagoge Berlin-Wilmersdorf; Foto: dpa/picture-alliance
"Der Muslim und die Jüdin" erscheint zu einer Zeit, in der Debatten über "No-go-Areas" die jüdisch-muslimische Begegnung überschatten. "So nah sich Juden und Muslime einst waren, so fern scheinen sie sich heute zu sein", resümiert Steinke.

Unter vorgehaltener Sorge werden Juden gegen Andere instrumentalisiert und gleichzeitig zur Zielscheibe antisemitischer Agitation. Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus gehen in der Formel des "christlich-jüdischen Abendlandes" Hand in Hand. Dagegen hilft es, marginalisierte Erzählungen zu stärken, die im kollektiven Gedächtnis undenkbar erscheinen.

Über den "eigenen" historischen Tellerrand blicken

So meint Steinke etwa: "Wenn heute manche Muslime in Deutschland den Eindruck haben, die Erinnerung an den Holocaust tangiere sie nicht, es gebe da keinen Berührungspunkt mit ihrer eigenen Geschichte, muslimische Migranten kämen darin nicht vor – dann beweist die Geschichte, die in diesem Buch erzählt werden soll, das Gegenteil."

Doch das Plädoyer beschränkt sich einseitig auf Muslime als "lernbedürftige" Minderheit und suggeriert, die Mehrheitsgesellschaft habe ihre Geschichte/n aufgearbeitet und soziale Macht- und Ungleichheitsverhältnisse komplett überwunden.

Dabei ist die Geschichte des "Gerechten unter den Völkern" auch für jene von Bedeutung, die meinen, der Islam und Muslime gehörten nicht zu Deutschland. Das Buch bietet allen die Chance, über den "eigenen" historischen Tellerrand zu blicken und "unsere" Geschichte und die "der Anderen" in ihren vielfältigen Verflechtungen anzuerkennen. Denn wie Steinke richtig schlussfolgert: "Die Geschichte der Muslime in Europa ist älter und facettenreicher, als es oft erscheint." Genauso wie ihre Gegenwart.

Ozan Z. Keskinkilic

© Qantara.de 2017

Ronen Steinke: "Der Muslim und die Jüdin", Berlin Verlag 2017, 208 Seiten, ISBN: 978-3-8270-1351-4

Ozan Z. Keskinkilic ist Politikwissenschaftler, Aktivist und politischer Bildner. Zu seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten zählen (Post-)Kolonialismus, Migration und Erinnerungskultur sowie Rassismus- und Antisemitismuskritik.