Fatou Diome: "Der Bauch des Ozeans"

Viele Afrikaner machen sich auf nach Europa. Warum sich der Mythos vom gelobten Kontinent so hartnäckig hält, davon handelt der Roman der Senegalesin Fatou Diome: "Der Bauch des Ozeans". Brigitte Neumann stellt ihn vor.

Viele Afrikaner versuchen unter Lebensgefahren, nach Europa auszuwandern. Warum sich der Mythos vom gelobten Kontinent so hartnäckig hält, davon handelt der Debutroman der Senegalesin Fatou Diome: "Der Bauch des Ozeans". Brigitte Neumann stellt ihn vor.

Fatou Diome, Foto: Regine Mosimann, © Diogenes-Verlag
Fatou Diome

​​Fortgehen, das ist der einzige Gedanke, der den jungen Senegalesen Madické beherrscht. Fort aus dem Dorf, über den Ozean in das Land, wo man fürs Einsammeln von Hundekötteln ein Gehalt von der Stadt bezieht, wo das Gras so viel grüner ist, wo schon Babys im Mutterleib ein eigenes Bankkonto haben und, kaum dass sie auf der Welt sind, einen Karriereplan.

"Wer sich dieser Sehnsucht in den Weg stellt, ist verflucht.", beschließt Madické. Aber, Salie, seine große Schwester in Frankreich, belehrt ihn eines Besseren. Salie ist das Alter Ego der 36-jährigen Fatou Diome, die mit ihrem Erstlingsroman "Der Bauch des Ozeans" genau das tut: Sie stellt sich dieser afrikanischen Sehnsucht nach Europa in den Weg.

"Die Wahrheit ist, die Leute müssen manchmal fünf oder zehn Jahre sparen, bis sie sich eine Reise nach Hause leisten können", erzählt Fatou Diome. "Dann geben sie für zwei Wochen in ihrem Dorf den ‚petit bourgeois'. Aber all die Jahre in Europa sind sie arme kleine Handlanger, die im Dreck leben.

"Das musste endlich jemand wagen denen zu sagen, die nichts dringender wollen, als aus Afrika abzuhauen. Wenn sie gehen wollen, um würdevoll und auf respektable Weise zu leben, dann sollten sie zuhause bleiben. In Afrika haben sie nicht viel, aber doch das Nötigste.

"In Europa müssen sie für alles bezahlen: Wasser, Telefon, Fernsehen, Strom. Das gibt es in der Heimat nicht oder es ist umsonst. Dort hat jeder seine Petroleumlampe und immer frischen Fisch. Diese Vorteile sehen die Leute aber nicht.

"Manchmal müssen sie erst fort gehen, um zu sehen, was sie an ihrer Heimat haben. Es war mir wichtig, den Afrikanern zu sagen, dass es ja nicht darum gehen kann, nach Europa zu kommen, um ein miserables Leben zu führen. Dann ist es doch besser zu bleiben, zwar arm, aber respektiert."

Bilder vom Wohlstand

Die Sehnsucht nach Europa speist sich laut Fatou Diome aus mehreren Quellen. Da ist das senegalesische Fernsehen, das Bilder des westlichen Wohlstands noch bis in die entlegendste Hütte überträgt; der Tourismus, der Weiße ins Land bringt, die sich bei den niedrigen Preisen im Senegal alles leisten können.

Außerdem die Tradition, dass junge Senegalesen ihr Glück in der Fremde versuchen müssen, wenn es dazu daheim keine Chance gibt. La France zum Beispiel reimt sich eben auf Chance. Für Senegalesen, seit sie die ersten Brocken Französisch gelernt haben, seit der Kolonisation.

"Damals mussten die Afrikaner glauben, Weiße seien starke, gesunde, gut aussehende und intelligente Menschen" so Fatou Diome. "Behinderte und Kranke hat Frankreich nicht in den Senegal geschickt. Im Kopf des kolonisierten Afrikaners war der Weiße immer ein perfektes Wesen. Ein derart perfektes Wesen konnte nur aus einer perfekten Kultur in einem perfekten Land kommen.

"Und wenn jemand so etwas von Ihnen denkt, dann hat er Lust, Ihnen zu folgen. Gebildete Afrikaner wissen, dass das Aberglaube ist. Sie wissen, dass auch die Armut inzwischen globalisiert wurde. Es gibt Elende in Frankreich genauso wie in Dakar. Aber die Leute ohne Schulbildung träumen immer noch von einem europäischen Paradies."

Eine, die es geschafft hat

Die Frau mit der Löwenmähne aus strohhalmdünnen Zöpfchen lächelt, als sie sagt, dass das aus ihrem Munde seltsam klingen mag. Schließlich lebt sie seit zehn Jahren in Straßburg, unterrichtet Literatur an der dortigen Universität und schreibt gerade an ihrer Doktorarbeit über den senegalesischen Filmemacher und Schriftsteller Sembene Ousmane.

Sie hat es geschafft. Nach acht Jahren Kampf mit den Behörden, bekam sie die französische Staatsbürgerschaft und eine Arbeitserlaubnis. Aber auf eine Fatou Diome kommen tausende von Afrikanerinnen, die hier im Elend leben.

In ihrem Roman erzählt sie auch von diesen Menschen. Z.B. von Moussa, dem Fußballtalent, der von einem Agenten in ein französisches Trainingscamp mitgenommen wird und nach ein paar Wochen seine Abschiebepapiere bekommt. "Was hilft es einem, über ein Seil zu tanzen, wenn auf der anderen Seite doch nur ein bodenloses Loch auf einen wartet?"

Wieder zuhause, kann er die Verachtung seiner Familie nicht lange ertragen. Die Meinung im Dorf ist: "Wer von Europa arm zurück kommt, muss schon ein arger Trottel sein." Moussa wählt den "bitteren Bauch des Ozeans" als letzte Zuflucht.

Er ist nicht der erste, der das tut. Sie erzählt auch von Sankèle, die gerade 17 ist, als ihr Vater und die Onkels sie an einen alten Mann, einen Heimkehrer aus Frankreich, verheiraten wollen. Sie flieht auf einer Barke übers Meer und keiner hört je wieder von ihr.

Unehelich in einem islamischen Land

Auch Fatou Diome blickt auf eine harte Zeit in ihrer islamisch
geprägten Heimat zurück: "Ich war ein uneheliches Kind. Die Leute sagten, ich sei wohl irgendwo aufgelesen worden ... Wirklich niemand wollte, dass ich kam. Man hat meine Mutter dafür büßen lassen. Sie wollte dann nichts mit mir zu tun haben, mein Vater ebenso.

"Als meine Großmutter mich bei sich aufnahm, hat sie das im Bewusstsein getan, dass von nun an alle auch sie als Entehrte beschimpfen werden. In den Pflegefamilien, in denen ich später lebte, war ich wieder die, die nicht zur Familie gehört. Ich war die schmutzige, die zu schuften hatte. Das Aschenbrödel.

"Als ich dann nach Europa kam und den Rassismus hier erlebte, sagte ich mir: O.k., hier weisen sie dich nicht zurück, weil du ein Mädchen bist und unehelich. Hier bist du unerwünscht wegen deiner Hautfarbe. Für mich war das kein großer Unterschied zu meiner Erfahrung in Afrika. Ich empfand den gleichen Schmerz."

"Die Dritte Welt ist mit ihren Wunden so geschlagen, dass sie die Wunden Europas nicht sieht ... Wenn sie das Elend im Westen erkennen könnte, gingen ihre Flüche ins Leere.", schreibt Fatou Diome. Sie hat sich als kleines Mädchen selbst eingeschult, weil sie spürte, dass sie auf diese Weise dem dörflichen Hexenkessel entkommen kann. Afrika ist der Kontinent der mündlichen Überlieferung. Niemand in ihrer Familie kann lesen und schreiben. Wie kam es, dass Fatou Diome die Literatur für sich entdeckt hat?

"Vielleicht weil ich kein Recht hatte zu sprechen. Ich musste gehorchen und zu allem Ja sagen. Aber ich liebte es, zu lesen. Als ich las, wuchs in mir das Bedürfnis zu sprechen und Fragen zu stellen. Da sich aber niemand dafür interessierte, was ich zu sagen hatte, blieb mir nur eine Wahl. Ich fing an zu schreiben. Ich vertraute mich einem weißen Blatt Papier an. Papier ist tolerant. Ihm war es egal, dass es von einem unehelichen Mädchen beschrieben wurde."

"Das Leben nicht an Träume verschwenden"

​​Der Argeninier Jorge Luis Borges hat einmal gesagt: Lesen ist Denken mit fremden Gehirnen. Für aufklärerische Romane wie den von Fatou Diome stimmt das im Besonderen Maße. Wir Europäer lernen von der Senegalesin, dass manche von weither zu uns kommen, weil sie - wie Fatou Diome - die Freiheit brauchen, die unser Kontinent bietet.

Und ihre Landsleute ruft sie auf, ihr Leben nicht an Träume zu verschwenden. Aber sie weiß auch, dass dieser Aufruf in einem Buch in einem Land, in dem kaum gelesen wird, wenig ausrichten kann.

"Die Auswanderungswelle jedenfalls wird weitergehen", beklagt sie, "so lange bis Afrika sich weiterentwickelt hat. Afrikaner werden immer kommen, auch wenn sie hier sterben müssten. Das ist gefährlich. Wenn man einen afrikanischen Auswanderer also zurückschickt, dann wäre es meines Erachtens eine gute Idee, ihm Geld mitzugeben, damit er zuhause ein kleines Geschäft aufbauen kann. Denn wenn jemand bei sich zu essen hat, dann wird er nicht vom Brot des anderen wollen. "

Fatou Diome hat diese Art von Entwicklungshilfe geleistet. Bei ihrem jüngeren Bruder, der von seinem Traum, in Europa Fußball zu spielen, nicht abzubringen war. Fatou Diome hat ihm einen Teil ihrer ersten Honorare geschickt. Heute hat er einen Lebensmittelladen auf der senegalesischen Insel Niodior. Und auch wenn viele seiner Kunden anschreiben lassen, er ist stolz und will bleiben.

Brigitte Neumann

© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2004

Fatou Diome: "Der Bauch des Ozeans"
Aus dem Französischen von Brigitte Große
Roman Diogenes, 220 Seiten, 17,90 Euro

Mehr über die Autorin und das Buch beim Diogenes-Verlag