Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern

Welche politischen Umstände den Völkermord an den Armeniern ermöglichten, beschreibt das Buch "Operation Nemesis" von Rolf Hosfeld. Auch die Rolle Deutschlands wird berücksichtigt. Eine kritische Betrachtung von Amin Farzanefar.

Welche politischen Umstände den Völkermord an den Armeniern ermöglichten, beschreibt das Buch "Operation Nemesis" von Rolf Hosfeld. Dass Deutschland daran nicht unbeteiligt war, ist eine der Aussagen des Buches, das aufgrund seiner Holocaust-Vergleiche nicht unumstritten ist. Eine kritische Beleuchtung von Amin Farzanefar.

Armenische Augenzeugin des Völkermords; Foto: AP
Einen wichtigen Beitrag zur notwendigen Vergangenheitsbewältigung können Überlebende leisten: armenische Augenzeugin

​​Im April 2005 wurde des Völkermords an den Armeniern gedacht. Inzwischen ist man wieder zur Tagesordnung übergegangen; 1915 jedoch ging das Morden monatelang weiter - bis 1917 trieben noch unzählige verstümmelte Leichen den Euphrat hinunter, entsetzten sich Augenzeugen über Leichenberge deportierter Armenier in der mesopotamischen Wüste.

Das Buch von Rolf Hosfeld "Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern" widmet sich ausführlich den Hintergründen der damaligen Ereignisse. Das Verdienst des Filmemachers, Journalisten und Chefredakteurs Hosfeld liegt vor allem darin, dass er über die barbarischen Details der "Säuberungsaktionen" (800.000 bis 1,4 Millionen Opfer) hinaus auch den gesamten historischen Vorlauf schildert, also die weit bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Zusammenhänge.

Im Osmanischen Reich hatten der Verlust der Großmachtstellung, die Abtrennung der europäischen Reichsgebiete und die damit verbundenen Überfremdungsängste bereits 1895 unter Sultan Abdul Hamid, zu Massakern mit 100.000 Toten geführt.

Enttäuschte Hoffnungen

Nach der Entmachtung Abdul Hamids hatte die Mehrheit der armenischen Christen auf lange versprochene Reformen und ihre Gleichberechtigung innerhalb einer modernisierten, eher föderativ strukturierten Türkei gehofft; dabei hatten sie internationale Unterstützung erbeten - und sich damit bei den Jungtürken verdächtig gemacht.

Diese manipulierten mit Dschihad-Rhetorik und pseudo-aufklärerischen Parolen geschickt die anfänglich wenig fanatisierte türkische Bevölkerung und wussten ihre nationalistischen Träume eines pantürkischen Weltreichs immer exzessiver zu formulieren und durchzusetzen.

Nach weiteren Gebietsverlusten auf dem Balkan ging man im Vorfeld des Ersten Weltkriegs dazu über, die seit Jahrhunderten im Osmanischen Reich beheimateten, überdurchschnittlich gebildeten und wohlhabenden Armenier pauschal als innere Gefahr zu marginalisieren, zu brandmarken und schließlich zu vernichten.

Hosfelds Buch bietet einen genauen Überblick über all diese damaligen Stimmungslagen und Kräfteverhältnisse, nennt die Schauplätze, die unterschiedlichen Akteure, ihre Ziele und Strategien und lässt gerade in der detaillierten Schilderung Ähnlichkeiten zur Gegenwart aufscheinen:

Wie eine ganze "westliche Wertegemeinschaft", verstrickt in verschiedene andere Krisenherde, aber auch in eigene handfeste wirtschaftliche und militärische Interessen, die Augen vor dieser heraufziehenden "humanitären Katastrophe" verschließt - das lässt den Leser an aktuellere Schauplätze denken.

Vorwürfe gegen Hosfeld

Folgerichtig wurde gegenüber Hosfeld der Vorwurf erhoben, allzu modernes Vokabular auf die historischen Verhältnisse und Ereignisse anzuwenden und dadurch eine verzerrte Sichtweise zu fördern.

Rolf Hosfeld; Foto: Metzverlag
Rolf Hosfeld

​​Anstoß erregte zum einen die Verwendung von tagesaktuell konnotierten Begriffen wie "Warlords" für die kurdischen Stammesführer, welche massiv an den Überfällen und Massakern mitwirkten, zum anderen Termini aus dem Holocaust-Jargon: "Topografie des Terrors", Totenkopfbrigade, Konzentrationslager, Endlösung ...

Tatsächlich aber erscheinen viele Kapitel der von Hosfeld erzählten Geschichtstragödie erschreckend bekannt: Das betrifft die Hetzpropaganda und so genannte "Dolchstoßlegenden" von einem mit dem äußeren Feind paktierenden inneren Verräter oder eine Paranoia, die in jeder verdächtigen Handlung einzelner Armenier gleich Beweise für die Schäbigkeit der gesamten Rasse sah.

Ferner trifft dies auf die als "Umsiedlungsaktionen" getarnten Todesmärsche in die syrische Wüste zu, auf die landesweit organisierte Deportation in Viehwaggons, die Massenerschießungen und die "statistische" Auswertung der Säuberungsaktionen in einzelnen Landstrichen.

An die aktuellen Debatten (um Götz Alys "Hitlers Volksstaat") erinnert schließlich auch der wirtschaftliche Nutzen, den die jungtürkische Entourage und ihre Helfershelfer aus den Plünderungen, Übereignungen oder dem "Kauf" (zu Dumpingpreisen) der armenischen Ländereien, Betriebe, Geschäfte und Häuser zogen: wer aktiv mitmachte, profitierte.

So spinnt sich mehr als nur ein Faden zum Dritten Reich, nicht nur angesichts des kolportierten Zitates "Wer denkt heute schon an die Vernichtung der Armenier?", mit dem Hitler seine eigenen Pläne absegnete, und angesichts der in beiden Fällen generalstabsmäßig geplanten und organisiert durchgeführten Deportation und Vernichtung.

Die Haltung Deutschlands

Worauf nun Rolf Hosfeld besonderes Augenmerk legt, ist der deutsche Anteil an der sich über Monate hinziehenden Tragödie. Die jüngste Zurückhaltung der Bundesregierung bei der Benennung des Völkermords als solchem mag sich teilweise auch aus der damaligen deutsch-osmanischen Waffenbrüderschaft bei Kriegsausbruch erklären.

Hosfeld zitiert die von erschütterten deutschen Militärberatern und Regierungsangehörigen bei der Reichsleitung in Berlin eingereichten Bitten um Intervention und Schutz der Armenier. Und er nennt auch die von Reichskanzler Bethmann-Hollweg ausgegebene Losung, dass man wegen des Kriegszustandes dem Bündnispartner nicht in den Rücken fallen und auf die Armenier keine Rücksicht nehmen könne.

​​Verschiedenen Berichten zufolge waren einzelne deutsche Offiziere aktiv am Aufbau der aus freigelassenen Sträflingen rekrutierten "Sonderkommmandos" ("Teskilati Mahsusa"), also der Mordbataillone, beteiligt; erste Deportationspläne gehen zurück auf den stellvertretenden Stabschef der Osmanischen Armee, Generalstabsoffizier Colmar Freiherr von der Goltz.

Andererseits setzten sich zahlreiche Deutsche, wie der Missionar Johannes Lepsius oder der Schriftsteller Armin T. Wegener, unermüdlich und verzweifelt für eine Bekanntmachung und Beendigung der Gräueltaten ein und bemühten sich später sehr darum, diese zumindest zu dokumentieren.

Die Deutschen haben sich an diesem Schauplatz zweifelsohne die Hände schmutzig gemacht, vor allem durch Mitwisserschaft, scheinen aber hinsichtlich der Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte erheblich weiter als die Türken, wie die jüngsten Drohungen gegen den Schriftsteller Orhan Pamuk zeigen.

Rolf Hosfelds beeindruckende Rekonstruktion einer krisenhaften Epoche lässt auch erkennen, wie viele der damaligen Dispositionen - übersteigerter Nationalismus, Minderwertigkeits- und Größenfantasien, Überfremdungsängste - immer noch aktuell sind, und lässt so manche Empfindlichkeiten der modernen Türkei besser verstehen.

Hosfelds Recherche

Hosfeld hat ausgiebiges Quellenstudium betrieben: Fußnoten und Quellenapparat nennen die einschlägigen internationalen Archive, die Faktenfülle speist sich aus den Aussagen von Überlebenden, Tätern und Augenzeugen. Seite für Seite fügen sich Zeitungsartikel, Briefe, Depeschen, Telegramme, Tagebuchnotizen, Gerichtsprotokolle und Zeugenaussagen zu einem vielstimmigen Klagegesang, der sich dem Leser unter die Haut brennt.

Die angesammelten Materialmengen präsentiert der Autor in einem durchgängig packenden Stil, ohne dabei ins Populärwissenschaftliche abzugleiten: weder stellt er alle Türken unter Generalverdacht, noch übergeht er armenische Terroristen, auf deren Existenz heutige Nationalisten ihre Leugnungsstrategien aufbauen.

Wer daran interessiert ist, wie kunstfertig sämtliche Argumente und Fakten verdreht werden, und warum die Armenier selber an allem schuld sein sollen, kann dies in einschlägigen Chatforen nachlesen oder in Erich Feigls Klassiker "Ein Mythos des Terrors."

In der Tat ist das Thema ein gefährliches, ideologisch vermintes Gelände, und über manche Details existieren allein aufgrund der historischen Distanz mehrere Versionen. Bücher wie "Operation Nemesis" sollten ein für alle Mal prinzipielle Zweifel an den historischen Ereignissen ausräumen und Platz schaffen für eine richtige Vergangenheitsbewältigung. Danach sieht es zurzeit leider nicht aus.

Amin Farzanefer

© Qantara.de 2005

Rolf Hosfeld: Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2005

Qantara.de

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