Frankreich als Vorbild

Im 19. Jahrhundert wurden nicht nur Europäer vom Reisefieber gepackt, das sie in den Orient führte. Auch die Zahl derer, die in die Gegenrichtung, vom Orient nach Europa, reisten, stieg rapide an. Barbara Winckler über Rifa'a al-Tahtawis "Ein Muslim in Paris".

Riaf'a al-Tahtawi; Foto: www.sis.gov.eg/calendar/ html/cl151096.htm
Er bewunderte die Errungenschaften der Europäer, denen es nachzuahmen gelte, warnte aber gleichzeitig davor, alles kritiklos zu übernehmen: Riafa'a al-Tahtawi

​​In dieser Zeit bedeutete eine Reise nach Europa in der Regel eine Reise nach Paris, das damals aus arabischer ebenso wie aus europäischer Sicht als "Hauptstadt des 19. Jahrhunderts" galt.

Der Zweck wie auch die Umstände der Reise konnten erheblich variieren. Aus Ägypten wurden zunächst junge Männer im Rahmen von Studienmissionen entsandt, andere wurden als Sprachlehrer oder Übersetzer eingeladen, und später fuhr man nach Europa, um Weltausstellungen oder Orientalistenkongresse zu besuchen.

Eine Reihe dieser Reisenden hielt ihre Erfahrungen und Eindrücke schriftlich fest. Sinn und Zweck dieser Berichte war zumeist, die eigenen Landsleute an dem in Europa erworbenen Wissen teilhaben zu lassen, zur Nachahmung anzuregen und damit einen Beitrag zur Entwicklung des Landes zu leisten.

Der wohl bekannteste und zudem Autor des frühesten publizierten Reiseberichts ist der ägyptische Azhar-Scheich Rifa'a Rafi' al-Tahtawi (1801-1873).

"Ein Muslim entdeckt Europa"

1834 erschien sein Buch mit dem in der damals üblichen kunstvollen Reimprosa gehaltenen und damit kaum zu übersetzenden Titel Takhlis al-ibriz fi talkhis Baris (Die Läuterung des Goldes in einer zusammenfassenden Darstellung von Paris). Ein Muslim entdeckt Europa, so der Titel der deutschen Übersetzung, berichtet von den Eindrücken, die Tahtawi in Paris gewonnen hatte, wo er sich von 1826 bis 1831 als Imam der ersten von Muhammad Ali entsandten Studienmission aufhielt.

Ägypten befand sich in einer Umbruchphase. Seit der Napoleonischen Ägyptenexpedition von 1798 und der anschließenden dreijährigen Besatzungszeit sah man sich – vor allem auf militärisch-technischem Gebiet mit einer eklatanten europäischen Überlegenheit konfrontiert, die es einzuholen galt.

Wer in Paris studiert hatte, so die Strategie, könnte die französischen Experten ersetzen, die man zu diesem Zweck ins Land geholt hatte. Als weitgehend säkularisiertes Land erschien Frankreich zudem weniger 'gefährlich' für Muslime.

Nachdem man sich Jahrhunderte lang nicht für das (vermeintlich) rückständige Europa interessiert hatte, stellte Tahtawis Buch die erste moderne arabische Beschreibung eines europäischen Landes dar. In sachlichem Ton geschrieben, sollte es ein praktischer Reiseführer sein, unterhalten und erbauen, bilden und zur Nachahmung anregen.

Begeistert von der französischen Gelehrsamkeit, dem Erziehungssystem und wissenschaftlichen Errungenschaften, vermittelt Tahtawi oftmals ein Idealbild, nach dem etwa "alle Franzosen" lesen und schreiben könnten, eine Bibliothek besäßen und von Forscherdrang beseelt seien. Das republikanische politische System wird positiv geschildert, doch wird angemerkt, dass im Islam alles gut geregelt sei.

Studienmission Grundstein für Karriere

Tahtawi, geboren im oberägyptischen Tahta und Spross einer angesehenen Familie, war einer der Pioniere der nahda, der arabischen Renaissance. Das Studium an der Kairoer Azhar-Universität mit ihren traditionellen religiösen Lehrinhalten prädestinierte keinesfalls für diese Rolle.

Zwar beschäftigte er sich bereits zu dieser Zeit auch mit Geographie, Geschichte, Astronomie und Naturwissenschaften. Entscheidend für die weitere Entwicklung Tahtawis war jedoch sicherlich die Teilnahme an der Studienmission, die wie auch bei anderen Teilnehmern den Grundstein für spätere Karrieren in Armee oder Verwaltung legte.

Als Glücksfall erwies sich zudem, dass Tahtawi im Unterschied zu den anderen Teilnehmern nicht für eine technische Spezialisierung abgeordnet war, sondern sich ganz dem Übersetzen und damit einer breiten Lektüre widmen konnte.

Nachhaltiger Einfluss als Übersetzer

Bemerkenswert ist der außerordentliche Wissensdurst und die Beobachtungsgabe, mit der er alle erdenklichen Aspekte der fremden Kultur aufnahm und aufzeichnete, von Details des Alltagslebens über das Erziehungs- und das politische System bis hin zur Julirevolution 1830. Dass es zu engeren Kontakten zur französischen Bevölkerung kam, ist, schon aufgrund des enormen Arbeitspensums, kaum wahrscheinlich.

Tahtawi las u.a. Texte von Montesquieu, Voltaire und Rousseau, die er jedoch sprachlich wie intellektuell kaum voll durchdrungen haben wird. Als Intellektueller und Regierungsbeamter in wechselnden Ämtern hatte er später großen Einfluss auf die ägyptische (Reform-)Politik.

Am Nachhaltigsten wirkte er wohl als Leiter der Sprachenschule, als Übersetzer und Übersetzerförderer. Er übersetzte selbst zahlreiche technische und historische Werke, aber auch Gesetzestexte, darunter den Code Napoléon.

Wie bei vielen seiner Zeitgenossen war das Fortschrittsdenken und die Bewunderung für die (wissenschaftlichen) Errungenschaften der Europäer, denen es auf dem Weg der Entwicklung nachzustreben galt, bei Tahtawi noch gänzlich ungebrochen bei gleichzeitiger Achtung für die eigene Kultur und dem Bewusstsein, dass nicht alles übernommen werden sollte.

Er plädierte jedoch für die Einrichtung eines Parlaments und für Mädchenerziehung. Die Frage, wie die Araber Neuerungen aus Europa aufnehmen können, ohne ihre kulturelle und religiöse Identität preiszugeben, erhielt erst später die noch heute aktuelle Brisanz.

Barbara Winckler

© Qantara.de 2005

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Dossier: Reisen durch Jahrhunderte und Kontinente
Abenteuerlust, Wissensdrang oder Exotik – all das können Gründe für eine Reise in ferne Länder sein. Schon immer brachen Frauen und Männer in den Orient oder nach Europa auf. Der eine fühlt sich in seinen Vorurteilen bestätigt, der andere entdeckt seine Liebe zum Unbekannten.