Der Regeni-Mord und seine Folgen für die westliche Ägyptenpolitik

Die Ermordung eines italienischen Wissenschaftlers vor einem Jahr hat einmal mehr gezeigt, dass unabhängige Forschung in Ägypten kaum noch möglich ist. Deutsche und europäische Ägyptenpolitik sind aber auf wissenschaftliche Analysen angewiesen, meinen Stephan Roll und Lars Brozus.

Von Stephan Roll und Lars Brozus

Vor einem Jahr, am 25. Januar 2016, verschwand der Wissenschaftler Giulio Regeni in Kairo, am 3. Februar wurde sein Leichnam gefunden. Die Autopsie ergab, dass der 28-Jährige tagelang gefoltert worden war.

Bis heute sind die Hintergründe nicht aufgeklärt und die Täter nicht gefasst, die Indizien aber wiegen schwer: Regeni verschwand am fünften Jahrestag des Volksaufstandes von 2011, an dem die Kairoer Innenstadt besonders streng überwacht wurde; die Foltermale trugen aus Sicht ägyptischer Menschenrechtler die Handschrift der Sicherheitskräfte, und die Polizei versuchte, die Umstände des Verschwindens zu vertuschen und sprach zunächst von einem Autounfall – all dies legt den Schluss nahe, dass Regeni Opfer des ägyptischen Sicherheitsapparats wurde.

Ein gebilligter Mord

Regeni war vor seinem Tod von der Geheimpolizei beobachtet worden. Seine Forschung schien verdächtig – der Sozialwissenschaftler untersuchte die Spielräume für freie gewerkschaftliche Organisationen in Ägypten, ein hochsensibles Thema in einem repressiven Staat. Dass es von oberster politischer Ebene einen gezielten Mordbefehl gab, scheint indes wenig plausibel.

Vermutlich wurde Regeni Opfer der alltäglichen exzessiven Polizeigewalt in Ägypten. Die unabhängige Menschenrechtsorganisation Al Nadeem Center for Rehabilitation of Victims of Violence registrierte allein für die ersten fünf Monate des Jahres 2016 349 Fälle von Folter, von denen mindestens zwölf Fälle tödlich endeten. Human Rights Watch und Amnesty International weisen immer wieder auf die regelmäßige Anwendung von Folter in ägyptischem Polizeigewahrsam hin und beklagen die dramatische Zunahme von Entführungen durch Sicherheitskräfte. Auch die Bundesregierung zeigt sich besorgt über Folter und Verschwindenlassen.

Problematisch sind nicht nur die einzelnen menschenverachtenden Übergriffe, sondern auch der Umgang der politischen Führung in Kairo damit. Anstatt aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, leugnet das Regime die Vorkommnisse weitestgehend oder erklärt sie mit abstrusen Verschwörungstheorien. Im Falle Regenis etwa deutete Präsident Sisi an, dass "böse Menschen" die guten Beziehungen zwischen Ägypten und Italien stören wollten.

Inhaftierte Al-Jazeera-Journalisten während ihres Verfahrens im März 2014 in einem Käfig in Kairo; Foto: AFP/Getty Images
Maulkorb für die Presse: Das" Committee to Protect Journalists" brandmarkt Ägypten als einen der "größten Kerkermeister" für Journalisten weltweit. Auf der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit von "Reporter ohne Grenzen" steht das Land auf Rang 159 von 180.

Das Regime schürt damit die ohnehin verbreitete Paranoia in der Bevölkerung und lenkt so vom eigenen Versagen ab. Vor allem sendet es ein klares Signal: Auch wenn die Polizeigewalt nicht angeordnet worden sein sollte, kann und darf sich im heutigen Ägypten niemand sicher fühlen. Das gilt gleichermaßen für die islamistische Opposition wie für Akteure der kritischen Zivilgesellschaft, darunter auch Journalisten und Wissenschaftler – selbst solche mit ausländischem Pass.

Kaum noch verlässliche Informationen aus Ägypten

Die Botschaft kommt an. Schon seit dem Militärputsch 2013 ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit Ägypten immer schwieriger geworden. Zunächst betraf dies in erster Linie ägyptische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Für sie sind Reise- und Publikationsbeschränkungen seitdem an der Tagesordnung, zusätzlich sind die Finanzierungsmöglichkeiten für die unabhängige Forschung restriktiver geworden, auch und gerade durch internationale Partner.

Mittlerweile sind auch internationale Wissenschaftler gezwungen, ihre Tätigkeit in Ägypten deutlich einzuschränken. Forschung war in Ägypten nie einfach, liefen Wissenschaftler doch stets Gefahr, als Spione diskreditiert zu werden. Seit Regenis Ermordung aber reisen viele Expertinnen und Experten wegen der Gefahr für Leib und Leben gar nicht mehr ins Land. Somit führt die Unsicherheit, die mit dem ungeklärten Schicksal des Italieners einhergeht, dazu, dass immer weniger Analysen erstellt werden, die auf Forschung vor Ort basieren.

Auch Journalisten können kaum noch seriöse Informationen veröffentlichen. Staatliche und private Medien sind weitgehend auf Linie des Regimes und verbreiten dessen Propaganda. Die wenigen verbliebenen kritischen Journalisten werden mundtot gemacht und wegen der angeblichen Verbreitung von Falschinformationen zu Haftstrafen verurteilt. Das Committee to Protect Journalists brandmarkt Ägypten als einen der "größten Kerkermeister" für Journalisten weltweit. Auf der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen steht das Land auf Rang 159 von 180.

Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi zu Besuch bei Armee-Einheiten auf dem Sinai; Foto: picture-alliance
Milliardenhilfe für Ägyptens Militär? Um die Zahl der nach Europa kommenden Flüchtlinge zu verringern, strebt Kanzlerin Merkel nach dem Vorbild des Flüchtlingspakts mit der Türkei eine Zusammenarbeit mit den Transitländern im Norden Afrikas an. "Abkommen ähnlich dem, das wir jetzt mit der Türkei haben, müssen vor allen Dingen auch mit Ägypten erarbeitet werden, aber auch mit anderen afrikanischen Staaten", sagte Merkel bereits im vergangenen September. Oppositionspolitiker, wie die Grünen, kritisierten, dass das Militär in Ägypten tonangebend sei und entscheide, wohin das Geld fließe. Deshalb müsste vor einer solchen Vereinbarung klar geregelt sein, wie die EU sicherstellen wolle, dass die Gelder auch wirklich Flüchtlingen zugute kämen.

Wunschdenken in der westlichen Ägyptenpolitik

Gestützt wird das repressive Vorgehen des Sisi-Regimes auch durch die Passivität der westlichen Regierungen. Italien hat zwar im Fall Regeni aufgrund erheblichen innenpolitischen Drucks seinen Botschafter aus Kairo abgezogen – weitere Konsequenzen, etwa für die hervorragenden Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern, hatte der Mord nicht.

Lediglich das EU-Parlament verurteilte in einer Resolution die mangelnde Aufklärung durch die Sisi-Regierung scharf. Kritisiert wurden dabei auch die EU-Mitgliedstaaten, die trotz der gravierenden Menschenrechtsverletzungen an einer Normalisierung der Beziehungen mit Ägypten festhalten. Tatsächlich wird die Zusammenarbeit sogar ausgebaut: Während immer mehr Forscher das Land meiden, reisen westliche Politiker gerne an den Nil.

Dabei sollten westliche Regierungen nicht nur aus menschenrechtlichen Erwägungen Interesse an einer Aufklärung des Falls Regeni und der Eindämmung der Repressionen gegen Wissenschaftler und Journalisten haben.

Außenpolitik basiert auf einer Vielzahl von Informationen und Analysen. Diese kommen aus unterschiedlichen Quellen: den Botschaften, von Geheimdiensten, aus der Wissenschaft und von den Medien. Die Qualität der Informationen wie auch der Analyse muss hohen Ansprüchen genügen – insbesondere dann, wenn es um die Entscheidung darüber geht, ob und wie mit repressiven Regimen zusammengearbeitet wird.

So wertvoll und zutreffend Botschaftsberichte und Geheimdiensterkenntnisse auch sein mögen, sie können nicht das leisten, was Wissenschaft und eine unabhängige Medienberichterstattung vermögen. Gerade für die Untersuchung struktureller Veränderungen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft ist Forschung unverzichtbar, eine realistische Lagebeurteilung ist ohne sie praktisch unmöglich.

Am Ende droht eine gutgläubige oder auf Wunschdenken basierende Außenpolitik ihre Ziele zu verfehlen und nützt vor allem den autoritären Machthabern.

Stephan Roll und Lars Brozus

© Qantara.de 2017

Lars Brozus forscht an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) u.a. zu autoritären Regimen. Stephan Roll forscht, ebenfalls an der SWP, zu Ägypten. Die Stiftung berät Bundestag und Bundesregierung in allen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik.