Die Ungewissheit reist mit

Für seine Reportage "Gestrandet. Geflüchtete zwischen Syrien und Europa" reiste der Autor Tayfun Guttstadt in mehrere türkische Städte und an die Grenze zu Syrien. Im Gespräch mit Sonja Galler äußert er sich zur prekären rechtlichen Lage der syrischen Geflüchteten und das fehlende Integrationskonzept der Türkei.

Von Sonja Galler

Die Türkei ist eines der wichtigsten Transitländer für Flüchtlingsbewegungen auf dem Weg nach Europa. Zugleich ist es in den letzten Jahren selbst zu einem Einwanderungsland geworden: Mit rund drei Millionen Menschen beherbergt die Türkei die größte Anzahl syrischer Flüchtlinge weltweit. Nichtregierungsorganisationen schätzen die tatsächliche Zahl der Syrer in der Türkei sogar auf rund 3,5 Millionen, da sich längst nicht alle Geflüchteten registrieren lassen.

Für die EU und die türkische Regierung mag die sechsstellige Zahl vor allem ein Argument in einem innen- und außenpolitischen Spiel sein, das beide mit jeweils eigenen politischen Absichten spielen. Doch wie ergeht es den geflüchteten Menschen selbst? Denjenigen, die in der Türkei "stranden" und aus ganz unterschiedlichen Gründen beschließen, dort zu bleiben.

Der Hamburger Autor Tayfun Guttstadt, der bereits in seinem ersten Buch "Çapulcu" über den Gezi-Aufstand aus der Türkei berichtete, hat sich erneut auf Reisen gemacht und zwischen Istanbul, Hatay, Gaziantep und Diyarbakir (nicht nur) mit syrischen Geflüchteten über ihr Leben, ihre politischen Einschätzungen, Hoffnungen und Enttäuschungen gesprochen.

Hoffnung auf baldige Rückkehr

Herausgekommen ist eine dicht erzählte Reportage, reich an Gesprächen mit Freunden, Zufallsbekanntschaften und Menschen ganz unterschiedlicher Lebensart, gespickt mit eigenen Beobachtungen und Hintergrundinformationen. So entsteht ein vielschichtiger Einblick in die prekäre soziale und rechtliche Situation von Syrern und anderen Geflüchteten im Land, die zwischen Bleiben und Weiterreisen schwanken.

Tayfun Guttstadt: "Gestrandet. Geflüchtete zwischen Syrien und Europa. Eine Reportage aus der Türkei" im Unrast Verlag
Vielschichtiger Einblick in die prekäre soziale und rechtliche Situation von Syrern: Der Hamburger Autor Tayfun Guttstadt ist zwischen Istanbul, Hatay, Gaziantep und Diyarbakir gereist und hat sich mit syrischen Flüchtlingen über ihre Lebenssituation in der Türkei, über ihre Hoffnungen und Enttäuschungen unterhalten.

"Der Großteil der Flüchtlinge lebt in der Hoffnung, bald zurückzukehren. Andere fühlen sich in der Türkei wohl, weil etwa die Kultur recht ähnlich ist, sie Arbeit oder Freunde gefunden haben. Wieder andere bleiben, weil sie nicht wissen, was sie sonst machen würden. Auch die Angst vor der illegalen Flucht nach Europa oder die Zweifel, ob es dort besser ist, sind Gründe, zu bleiben", äußert sich Guttstadt im Gespräch.

Nur ein kleiner Prozentsatz der Geflüchteten lebt in einem der Flüchtlingslager, die die türkische Regierung nahe der syrischen Grenze hat einrichten lassen, und aus denen wenig mehr als geschönte Bilder an die Öffentlichkeit gelangen. Der Zugang blieb Guttstadt genau wie anderen Journalisten auf seiner Reise verwehrt.

Die Großstadt als Armutsrisiko

Die überwiegende Mehrheit schlägt sich in den Städten des Landes durch. Dort bieten sich mehr Beschäftigungsmöglichkeiten, allerdings ist auch das Risiko der Verarmung hoch: Nicht selten leben die Geflüchteten zu horrenden Preisen auf engstem Raum und schuften ohne Arbeitserlaubnis "für Hungerlöhne in der Industrie oder auf dem Bau und müssen sich dann auch noch vorwerfen lassen, Türken und Kurden die Arbeit und die Wohnung wegzunehmen", so Guttstadt.

Ohne Arbeitserlaubnis, die für ihre Mitarbeiter einzuholen, sich nur wenige Arbeitgeber die Mühe machen, ist der Zugang zu Sozialleistungen kaum möglich. Auch Kinderarbeit, beispielsweise in der Textilbranche, ist ein Thema. Bei Schwarzarbeit oder nicht korrekt angemeldeten Geschäftsgründungen drücken die Behörden hingegen öfter mal beide Augen zu.

Doch auch positivere Biographien lässt Guttstadt in seinem Buch nicht unerwähnt: So berichtet er von Wohlhabenden, die sich Wohnungen und Häuser gemietet oder sogar gekauft und ihre Geschäfte in die Türkei verlagert haben. Künstler, Intellektuelle und Musiker sammeln sich in Istanbul, das neben Gaziantep und Berlin eines der Exilzentren syrischer Intellektueller geworden sei.

Aufgrund einer Besonderheit des türkischen Asylsystems gilt der Flüchtlingsstatus gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention jedoch nicht für Syrer, für die in der Türkei ein Sonderstatus geschaffen wurde, der ihnen offiziell die Nutzung des öffentlichen Gesundheits- und mittlerweile auch des Bildungssystems erlaubt. Häufig gibt es jedoch keine entsprechenden Kapazitäten, um die versprochenen Rechte auch zu gewährleisten.

Tayfun Guttstadt; Foto: Sonja Galler
Tayfun Guttstadt kritisiert die Flüchtlingspolitik der türkischen Regierung mit deutlichen Worten: "Es gibt kein erkennbares Integrationskonzept. Es gibt keine Partei, die sich der Rechte der Geflüchteten auf ehrliche Weise annimmt. Die AKP verwendet eine romantisierende Rhetorik, die ihre politische Instrumentalisierung, vor allem in der Innen- und EU-Politik, kaum verdeckt."

Ein weiteres Augenmerk richtet die Reportage daher auf die Bemühungen der Zivilgesellschaft: die lokalen Initiativen und Hilfsorganisationen, die sich teilweise unter provisorischen Bedingen für die Geflüchteten einsetzen und versuchen, Sprachkurse anzubieten und psychosoziale Unterstützung zu leisten.

Auch der umstrittenen Hilfsorganisation IHH, die vor allem im sunnitischen Milieu aktiv ist und deren Ableger in Deutschland verboten wurde, stattet Guttstadt einen Besuch ab.

Kein erkennbares Integrationskonzept

Aber auch Leute von der Straße oder Taxifahrer kommen in Guttstadts Reportage zu Wort – und ihre höchst subjektiven Äußerungen, die von rassistischen Ressentiments bis hin zu Verständnis und Empathiebekundungen für die Flüchtlinge reichen. All dies zeigt, dass das Thema auch in der Türkei bis heute emotional aufgeladen ist.

"Vor allem bei nationalistischen AKP-Gegnern ist die Ansicht verbreitet, die Syrer würden auf Kosten der Bürger in Saus und Braus leben", so Guttstadt. "Die lautesten Befürworter hingegen sind erfüllt von religiösem Pathos, bei dem die Bedürfnisse und Interessen der Geflüchteten wiederum kaum eine Rolle spielen. Sehr wenige Akteure in der Türkei erkennen, dass Flüchtlinge die gleichen Rechte verdienen wie jeder andere Mensch auch."

Die türkische Regierung kritisiert Guttstadt auch im Gespräch mit deutlichen Worten: "Es gibt kein erkennbares Integrationskonzept. Notlösungen prägen die Situation. Immer unter der Annahme, dass man nur kurz ein paar 'Gäste' versorgen müsse, weil Baschar al-Assad ja sowieso morgen oder übermorgen falle. Es gibt keine Partei, die sich der Rechte der Geflüchteten auf ehrliche Weise annimmt. Die AKP verwendet eine romantisierende Rhetorik, die ihre politische Instrumentalisierung, vor allem in der Innen- und EU-Politik, kaum verdeckt."

In diesem Zusammenhang ist auch die diskutierte Einbürgerung syrischer Flüchtlinge zu sehen: Sie sei "deshalb brisant, weil die AKP alles dafür tut, die mehrheitlich sunnitischen Geflüchteten – Nicht-Sunniten kommen nur ungern in die Türkei – in ihr Gesellschaftsmodell einzugliedern."

Sonja Galler

© Qantara.de 2017

Tayfun Guttstadt: Gestrandet. Geflüchtete zwischen Syrien und Europa. Eine Reportage aus der Türkei, Unrast Verlag 2016, 244 Seiten, ISBN 978-3-89771-056-6