Der Islam wird als störend betrachtet

Der Europäische Gerichtshof ermöglicht ein Kopftuch-Verbot am Arbeitsplatz. Er gewährt damit Unternehmen mehr Freiheit als der Religion. Ein Kommentar von Heribert Prantl

Von Heribert Prantl

Man kann die Kopftuch-Urteile des Europäischen Gerichtshofs in ihrer Bedeutung kaum überschätzen. Es sind Leitentscheidungen gegen die Religionsfreiheit. Es sind Entscheidungen, die versuchen, das Bekenntnis zur Religion am Arbeitsplatz tunlichst zu unterbinden. Sie laufen darauf hinaus, dass das Kopftuch am Arbeitsplatz verboten werden kann.

Die Richter haben die Grundregeln für ein Verbot formuliert, die nicht schwer zu erfüllen sind. Das heißt: An der Kasse im Supermarkt, an der Rezeption des Hotels und am Empfang des Konzerns wird man künftig kaum noch Frauen mit Kopftüchern finden, weil sich die Konventionen der Mehrheitsgesellschaft durchsetzen werden. Das kann dazu führen, dass muslimische Frauen aus der Arbeitswelt hinausgedrängt werden.

Die Luxemburger Verbotskultur, die Karlsruher Toleranzkultur

Die Urteile des EU-Gerichtshofs behandeln das Tragen von politischen, philosophischen und religiösen Zeichen ganz generell, gelten also für alle Religionen und Weltanschauungen; praktische Bedeutung haben die Urteile in erster Linie für das Bekenntnis zum Islam. Warum? Die Kippa wird am Arbeitsplatz selten getragen. Männer oder Frauen in Ordenstracht findet man nicht einmal mehr in christlichen Krankenhäusern; und Kreuze, die als Schmuck am Arbeitsplatz getragen werden, springen selten ins Auge. Kopftücher schon.

Es handelt sich um ein kleines Stück Stoff; dieses Stück Stoff verhüllt nicht das Gesicht, es dient nicht der Verschleierung; es ist nur ein Symbol. Aber dieses ist in den vergangenen Jahren mächtig aufgeladen worden. Darauf reagieren die EU-Richter. Sie stellen nicht die Frage, wie es so weit gekommen ist. Sie stellen fest, dass es so ist.

Kopftuch tragende Musliminnen in Frankfurt am Main; Foto: dpa/picture-alliance
Verbotskultur versus Toleranzkultur: Einer Muslimin darf bei der Arbeit unter bestimmten Bedingungen das Kopftuch verboten werden. Allerdings darf ein solches Verbot nicht nur auf Symbole des muslimischen Glaubens zielen und auch nicht einfach deshalb verfügt werden, weil sich Kunden an dem Kopftuch stören. Das geht aus den beiden am Dienstag in Luxemburg verkündeten Urteilen des Europäischen Gerichtshofs zu Fällen in Frankreich und Belgien hervor. In beiden Fällen waren die Frauen muslimischen Glaubens wegen ihres Kopftuchs entlassen worden. Die Luxemburger Richter hatten zu urteilen, ob dies mit dem EU-Recht zusammenpasst.

Das Kopftuch hat, positiv für die einen, negativ für die anderen, Bekenntniskraft. Die Richter akzeptieren es, wenn diese Bekenntniskraft in Privatunternehmen als Störung empfunden wird; die Störung soll beseitigt werden können. Nach diesen Urteilen kann man den Satz von Anatole France neu formulieren: "Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit", so schrieb der Dichter vor 120 Jahren, "verbietet den Reichen wie den Armen, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen." Auf heute umgeschrieben: Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet es Christen, Atheisten und Muslimen gleichermaßen, ein Kopftuch zu tragen. Entscheidend für die EU-Richter war die unternehmerische Freiheit, die für wichtiger gehalten wurde als die Religionsfreiheit.

EU-Urteile setzen Bundesverfassungsrichter unter Druck

Die Urteile sind sauber begründet; sie sind beeinflusst von der französischen Lebenswelt des Laizismus, welche die Religion zur Privatsache erklärt; und die Urteile treffen, was juristisch unerheblich ist, aber für ihre Rezeption von Bedeutung ist, den neuen Zeitgeist - der dazu neigt, den Islam als verstörende Religion zu empfinden.

Dieser Zeitgeist, der sich von der Liberalität der europäischen Gesellschaften, auf die diese einst stolz waren, entfernt, reagiert auf den Islamismus und das verbreitete Gefühl, dass einem die Heimat fremd wird. Das Kopftuch ist vielen zum Sinnbild dafür geworden. Dieser Zeitgeist hat die Urteile nicht geschrieben; aber er begrüßt sie - weil er sich so wehren will gegen das, was verstört.

In Sachen Kopftuch stoßen jetzt in Deutschland zwei juristische Linien und Kulturen aufeinander: die neue Verbotskultur des Europäischen Gerichtshofs - und die Toleranzkultur des Bundesverfassungsgerichts, welche die Religionsfreiheit hochhält. Das wirkt sich wie folgt aus: In deutschen Schulen (über die Karlsruhe entschieden hat), sind Kopftücher eher erlaubt als in privaten Unternehmen (über die Luxemburg entschieden hat).

Karlsruhe hatte sich 2015 von seinem pauschalen Kopftuch-Verbot aus dem Jahr 2003 gelöst und das Kopftuch für die Lehrerin akzeptiert, solange diese die Schüler nicht indoktriniert. Verletzt der Staat damit seine religiöse Neutralität? Nein, sagten die Verfassungsrichter, die Neutralität verbiete es zwar dem Staat, generell Kreuze in seine Amtsräume zu hängen - sie gebiete ihm aber nicht, seinen Beamten und Angestellten das Tuch vom Kopf oder das Kreuz vom Hals zu reißen.

Die Schule, das war die Essenz der Entscheidung, ist kein klinischer Raum, sondern einer, an dem Gesellschaft eingeübt wird. Es war eine hehre Entscheidung, eine, die stolz machen kann auf eine juristisch gestärkte gesellschaftliche Liberalität; es war aber auch eine Entscheidung, die hohe Anforderungen stellte: an Schulen und Lehrer, an Schüler und Eltern.

Der Druck auf Karlsruhe, rigoroser zu entscheiden, wird nach den Luxemburger Urteilen wachsen. Man wünscht sich freilich, dass stattdessen der Raum für Toleranz, Akzeptanz und Respekt vor dem Anderen wieder wachsen kann.

Heribert Prantl

© Süddeutsche Zeitung 2017