Unscharfe Trennlinien

In Tunesien hat die Ennahda-Partei verkündet, ihre politische Arbeit von dem Streben nach einem islamischen Gesellschaftsmodell zu entkoppeln. Auch in Marokko inszeniert sich die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung als Vorreiterin einer Trennung beider Sphären. Ali Anouzla geht in seinem Essay der Frage nach, was hinter dieser Rhetorik steckt.

Essay von Ali Anouzla

Der von der Ennahda-Partei eingeschlagene Weg könnte zahlreiche islamistische Bewegungen in der Region inspirieren. Auch wenn sich noch nicht mit Sicherheit sagen lässt, ob es sich bei der Entscheidung von Ennahda, einem der wichtigsten Akteure des politischen Islam in der Region, nur um einen taktischen Schachzug oder um eine strategische Richtungsentscheidung handelt.

Auf dem am 28. Mai 2016 abgehaltenen außerordentlichen Kongress der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Parti de la justice et du développement, PJD), der größten unter den derzeitigen marokkanischen Regierungsparteien, erklärte deren Generalsekretär Abdelilah Benkirane, seine Partei sei zu einer Vorreiterin in Sachen Trennung von Religion und Politik geworden, indem sie eine Reihe von Kursänderungen in die Wege geleitet habe. Dadurch habe sie sich in eine „bürgerliche politische Partei“ verwandelt.

In seiner Rede schlug Benkirane pathetische Töne an. Der Kurs seiner Partei sei wegweisend und werde weltweit als mustergültig angesehen. Eben die übliche Art der  Rhetorik, die man von politischen Akteuren zu hören bekommt, wenn sie vom marokkanischen Weg schwärmen. Da ist dann die Rede von Marokko als einem Land, das seinen Übergang zur Demokratie schon vor Jahren gemeistert und Pionierleistungen vollbracht habe, indem es mithilfe des Instruments der Transitional Justice einen nationalen Versöhnungsprozess auf den Weg gebracht habe.

Äußerungen dieser Art fügen sich nahtlos ein in das Narrativ vom Sonderfall Marokko, mit dem man primär auf dem internationalen Parkett punkten und nebenbei auch die patriotischen Gefühle seiner Gefolgsleute bedienen will. Aber das ist ein anderes Thema.

Verflechtung von Religion und Politik

Zurück zum Verhältnis von Religion und Politik in Marokko: Beide sind auf vielschichtige Weise miteinander verflochten und zwar auf sämtlichen Herrschaftsebenen – von der obersten Staatsspitze (der König ist als „Beherrscher der Gläubigen“ gleichzeitig religiöses Oberhaupt) - bis hinein in die Regierung.

Mohammed VI. Foto: Getty Images
Zuckerbrot und Peitsche: Von Beginn an verfolgte der marokkanische Staat beim Umgang mit den islamistischen Bewegungen eine Strategie der Vereinnahmung. Gegen Gruppierungen, die sich nicht mit Anreizen gefügig machen lassen, geht er mit harten Bandagen vor, bis deren Widerstand gebrochen ist und sie bettelnd und buckelnd vor ihm zu Kreuze kriechen.

So ist das Ministerium für Awqaf (fromme Stiftungen) und Islamische Angelegenheiten zwar – wie es auch Benkirane kürzlich angesprochen hat – formal Teil der Regierung, gleichzeitig aber dem Königshaus direkt unterstellt.

Dies setzt sich fort auf der Ebene der islamistischen Bewegungen, die in Marokko ihre Anfänge überwiegend in Da’wa-Aktivitäten (religiöser Missionsarbeit) hatten und dabei unter der schützenden Hand der Staatsgewalt agieren konnten. Darin unterscheiden sie sich – mit Ausnahme der Bewegung „Gerechtigkeit und Wohlfahrt“ (Al-Adl wa al-Ihsan) – von anderen islamistischen Bewegungen in der östlichen arabischen Welt, die sich seit ihrer Entstehung im Konflikt mit den herrschenden Kräften in ihren Ländern befinden.

Demgegenüber lässt sich für Marokko sagen, dass die dortigen islamistischen Bewegungen – insbesondere diejenigen Strömungen, die in die Gründung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) involviert waren – mit tatkräftiger Unterstützung seitens der Staatsmacht entstanden sind. Anfangs sollten sie ein Gegengewicht zur linken Opposition bilden, später dann das im Zuge des Niedergangs der linksgerichteten Parteien entstandene Vakuum füllen. Der Staat hatte ein aktives Interesse daran, die Kontrolle über diesen Prozess zu behalten und ihn in geordnete Bahnen zu lenken. 

Von Beginn an verfolgte der marokkanische Staat beim Umgang mit den islamistischen Bewegungen eine Strategie der Vereinnahmung nach dem Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche: Gegen Gruppierungen, die sich nicht mit Anreizen gefügig machen lassen, geht er mit harten Bandagen vor, bis deren Widerstand gebrochen ist und sie bettelnd und buckelnd vor ihm zu Kreuze kriechen.

Aktuell geschieht dies mit den Anführern der salafistischen Bewegung, die frisch aus dem Gefängnis gekommen sind und nun die Gründung politischer Parteien anstreben. Um dieses Ziel zu erreichen, bekunden sie ihre Loyalität gegenüber dem Staat und wären sogar bereit, mit dem Teufel ein Bündnis einzugehen. Und sei es, dass dieser Teufel in Gestalt eines früheren Geheimdienstoffiziers daherkommt, dem noch seine Verstrickung in die staatliche Repression der „bleiernen Jahre“ nachhängt, unter der Marokko in den 60er, 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts zu leiden hatte.

Raffinierte Rollenverteilung

Die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) wird zwar von ihrem Vorsitzenden als „bürgerliche politische Kraft“ präsentiert, verfügt jedoch nach wie vor über einen missionarischen Arm in Gestalt der „Bewegung für Einheit und Reform“, zu dem sie in einer ambivalenten und vielschichtigen Beziehung steht.

 Protest der "Bewegung des 20. Februar"
Marokkos "tiefer Staat" regiert mit: Im Juli 2011 fanden landesweite Proteste gegen den "Makhzen", gegen Korruption und Vetternwirtschaft sowie für mehr demokratische Teilhabe statt. Jedoch erwies sich der Protest der "Bewegung des 20. Februar" als nicht nachhaltig genug, um Marokkos Herrscher zu weitreichenden demokratischen Zugeständnissen zu zwingen.

          Rechtlich gesehen, ist diese Bewegung unabhängig von der PJD. Doch in ihrer Eigenschaft als zivilgesellschaftliche Da’wa-Organisation bleibt sie der missionarische Arm der Partei, auf den die PJD für ihre Arbeit als politisch-bürgerliche Organisation angewiesen ist.

Beide verfolgen auf ihre Weise das gleiche Projekt, wobei für die „Bewegung für Einheit und Reform“ die Institutionalisierung der Religion, für die PJD die Reform des Staatswesens im Vordergrund steht. Das Wort „Reform“ ist hier nicht nur als Verweis auf den von der Partei angeblich vertretenen gemäßigten Ansatz zu sehen, sondern auch der Tatsache geschuldet, dass andere Begriffe wie „Umbruch“ oder „Revolution“ in der politischen Praxis Marokkos vermieden werden.

Im Hinblick auf die Ausrichtung der Partei und ihres missionarischen Armes überwiegen die Gemeinsamkeiten. Fast scheint es so, als ginge es nur um eine Art raffinierter Rollenverteilung, damit die Verflechtung zwischen der religiösen und der politischen Sphäre nicht allzu offensichtlich ist. Abgesehen von der formalen Trennung, die sich in der organisatorischen Eigenständigkeit manifestiert, sind sich die beiden Organisationen in ihrer Programmatik und ihren grundlegenden strategischen Zielen sehr ähnlich.

Die enge Beziehung zwischen Religion und Politik in der islamischen Welt hat historische Wurzeln und ist komplexer sowie vielschichtiger Natur. Die Schnittmengen und Trennlinien sind unscharf. Es lässt sich nur schwer festmachen, wo Politik beginnt und wo die Religion endet.

Es reicht nicht aus, eine Trennlinie zwischen der Kanzel des Predigers in der Moschee und der Rednertribüne des Politikers zu ziehen, um von einer angemessenen Abgrenzung zwischen beiden Sphären sprechen zu können.

Das Problem liegt nicht im Standort der Kanzel, sondern in einem Diskurs, der durch die Vermischung von religiöser Missionsarbeit und Parteipolitik geprägt ist. So lässt sich konstatieren, dass der Diskurs bei der Da’wa-Bewegung einen politischen Charakter annimmt. Denn die Da’wa-Bewegung ruft die Menschen dazu auf, sich in die Politik einzumischen und für diejenige Partei zu stimmen, der am ehesten zuzutrauen ist, der Religion wieder die ihr gebührende Stellung zu verschaffen.

Eine religiös verbrämter politischer Diskurs begegnet uns dagegen bei jenen Parteien, die ihre Anhänger dazu aufrufen, stets die Werte der Religion hochzuhalten und deren Richtlinien zu befolgen, um auf die Errichtung einer göttlichen Ordnung auf Erden hinzuarbeiten.           

Ali Anouzla

© Qantara.de 2016

Übersetzung aus dem Arabischen von Rafael Sanchez

Der marokkanischer Autor und Journalist Ali Anouzla war verantwortlich für die 2013 von den marokkanischen Behörden verbotene Webseite "lakome.com". 2013 erhielt er den Preis "Leaders for Democracy" der amerikanischen Organisation POMED. Er ist seit März dieses Jahres Gast der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte.