Der Weg des Islam in die Moderne

Die Kollision zwischen Menschenrechtsnormen und muslimischer religiöser Lehre spiegelt den Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen wider. Einige reformtheologische Ansätze zeigen jedoch beispielhaft die Vereinbarkeit von Koran und Moderne auf, wie Mohammad Fazlhashemi, Professor für Islamische Theologie an der Universität Uppsala in Schweden, berichtet.

Von Mohammad Fazlhashemi

Viele Muslime stören sich seit langem an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) der Vereinten Nationen. Die Erklärung, so diese Kritiker, sei von Kolonialmächten mit einer langen Geschichte grausamer Menschenrechtsverletzungen geschaffen worden und laufe auf einen weiteren Versuch einer kleinen Zahl westlicher Akteure hinaus, den muslimischen Ländern ihren Willen aufzuzwingen.

Islamische Konservative und Fundamentalisten gehen noch einen Schritt weiter und erklären, dass keine menschliche Erfindung dem Gesetz der Scharia, das auf das Wort Gottes hinausliefe, gleichkommen oder gar an seine Stelle treten könne.

Diese Kollision zwischen den weltlichen Menschenrechtsnormen der Vereinten Nationen und muslimischer religiöser Lehre spiegelt den breiter angelegten Konflikt zwischen dem Islam und der Moderne wider – einen Konflikt, der einige Bürger muslimischer Länder, darunter Frauen und Nichtmuslime, hochgradig verwundbar gemacht hat.

Zum Glück spricht eine sich herausbildende Schule muslimischen Denkens die Frage auf neue Weise an; sie betont, dass der Koran wie jeder religiöse Text der Auslegung bedarf und dass sich diese Auslegungen im Laufe der Zeit ändern können.

Respekt für Gerechtigkeit und Menschenwürde

Der iranische Theologe Mohsen Kadivar; Quelle: Islam Diplomasi
Der 1959 in der südiranischen Stadt Schiraz geborene Kadivar war ein Schüler von Groß-Ayatollah Hossein Ali Montazeri, dem geistigen Mentor der sogenannten "Grünen Bewegung" im Iran.

Tatsächlich verteidigt der Koran Prinzipien wie Freiheit, Vorurteilslosigkeit und Rechtschaffenheit, was einen grundlegenden Respekt für Gerechtigkeit und Menschenwürde aufzeigt. Das Problem besteht – wie der iranische Theologe Mohsen Kadivar betont hat – darin, dass viele Teile des Scharia-Rechts mit vormodernen Sozialstrukturen verknüpft sind, die Frauen oder Nichtmuslimen den Schutz, der muslimischen Männern gewährt wird, vorenthalten.

Nicht gerade hilfreich ist zudem, dass, wie Abdulaziz Sachedina von der George Mason University betont hat, es Männer sind, die die heiligen Texte des Islam auslegen. Dies – und nicht der wahre Gehalt dieser Texte – ist die Grundursache der rechtlichen Diskriminierung von Frauen in muslimischen Ländern.

Der Theologe Ayatollah Mohammad Taqi Fazel Meybodi weist darauf hin, dass der Teil des islamischen Rechts, der die Bestrafung regelt – und u.a. brutale Praktiken wie Steinigungen und Amputationen umfasst – dem Alten Testament entstammt. Der Islam hat diese Strafen nicht erfunden; sie waren in der damaligen Zeit einfach gängige Praxis.

Wenn sich Gesellschaften weiterentwickeln, müssen ihre Regeln und Normen das auch tun. Wie der iranische Theologe Mohammad Mojtahed Shabestari von der Universität Teheran betont, waren viele der mit Gerechtigkeit und Menschenrechten (so wie wir sie heute verstehen) verknüpfte Vorstellungen in der vormodernen Ära völlig "ungedacht". Doch können die Muslime derartige Vorstellungen nicht einfach auf der Grundlage verwerfen, dass die Menschen sie noch nicht entwickelt hatten, als der Koran verfasst wurde.

Keinen Zwang in Glaubensfragen

Shabestari ist der Ansicht, dass es mit Aufgabe veralteter Vorstellungen von gestufter Gerechtigkeit und mit Anerkennung der Freiheit und Würde aller Menschen möglich werden wird, die Botschaft des Korans zu erkennen, dass es in Glaubensfragen keinen Zwang geben sollte. Die religiösen Entscheidungen der Menschen sollten durch ihr Glaubensverständnis bestimmt werden und nicht durch ihren Wunsch, sich ihre Bürgerrechte zu bewahren.

Der iranische Philosoph Abdolkarim Soroush, Foto: ISNA
Laut dem Philosophen Abdolkarim Soroush sollte die Unterscheidung zwischen religiösem Glauben und Bürgerrechten offensichtlich sein. Doch die Auslegungen des islamischen Rechts konzentrieren sich traditionell derart auf Fragen der verschiedenen Pflichten der Menschheit gegenüber Gott, dass sie diese Unterscheidung nicht erkannt haben.

Laut dem Philosophen Abdolkarim Soroush sollte die Unterscheidung zwischen religiösem Glauben und Bürgerrechten offensichtlich sein. Doch die Auslegungen des islamischen Rechts konzentrieren sich traditionell derart auf Fragen der verschiedenen Pflichten der Menschheit gegenüber Gott, dass sie diese Unterscheidung nicht erkannt haben. Für Soroush jedoch ist die Verweigerung von Menschenrechten auf der Grundlage "des Glaubens eines Menschen oder dessen Fehlens" unbestreitbar ein "Verbrechen".

Die von diesen Gelehrten (mit sunnitischem wie schiitischem Hintergrund) propagierte Schule muslimischen Denkens bietet dem Islam einen Weg voran. Ihre Anhänger wissen, dass zentrale islamische Konzepte, Glaubenssätze, Normen und Werte sich mit modernen Sozialstrukturen und Vorstellungen von Gerechtigkeit und Menschenrechten zur Deckung bringen lassen.

"Rettende Übersetzungen"

Durch Empfehlung von Wegen, um dies zu tun, bekräftigen sie die Beständigkeit der zentralen islamischen Tradition. Um es mit den Worten des deutschen Philosophen Jürgen Habermas zu sagen: Sie schaffen "rettende Übersetzungen", durch welche Sprache, Begriffsapparat und Sozialsystem aktualisiert werden, um Fortschritte der menschlichen Vernunft widerzuspiegeln.

Ayatollah Hossein-Ali Montazeri, Foto:Getty Images
Großayatollah Hossein-Ali Montazeri war im hohen Klerus nicht nur der schärfste Kritiker der Menschenrechtsverletzungen des Regimes, sondern auch der entschiedenste Befürworter einer Reform des Systems. Zwar hielt er bis zuletzt an der Doktrin der Herrschaft des Rechtsgelehrten fest, die er nach der Revolution 1979 mit in die Verfassung geschrieben hatte. Er starb im Dezember 2009 in Teheran.

Im Islam bilden sich bereits seit einiger Zeit derartige rettende Übersetzungen heraus. Tatsächlich kam es zum Zerwürfnis zwischen dem Obersten Religionsgelehrten Ayatollah Ruhollah Khomeini und dem verstorbenen iranischen Autor und Philosophen Ayatollah Hossein-Ali Montazeri (damals Khomeinis designierter Nachfolger) über politische Maßnahmen, die aus Sicht Montazeris gegen grundlegende Rechte und Freiheiten der Menschen verstießen.

In seiner Verteidigung der Redefreiheit verwies Montazeri auf einen Koranvers, in dem es heißt, dass Gott die Menschen gelehrt habe, sich [durch Rede] auszudrücken. "Wie kann Gott einerseits den Menschen die Fähigkeit vermitteln, sich [durch Rede] auszudrücken, und dies dann andererseits beschränken?", fragte er. Die offensichtliche Schlussfolgerung, so erklärte er, sei, dass "niemand der Gotteslästerung, Verleumdung oder Beleidigung für schuldig befunden werden sollte, einfach, weil er seine Meinung äußert".

Montazeri entschied sich wie die heutigen innovativen muslimischen Denker, sich die Offenheit für alternative Auslegungen des Korans zu bewahren, statt sich durch hergebrachte Traditionen einengen zu lassen. Die rettenden Übersetzungen, die diese Denker angeboten haben, zeigen, dass moderne globale Normen wie die AEMR nicht nur mit dem Islam vereinbar, sondern tief in ihn eingebettet sind.

Die Neuauslegung – oder selbst die Aufgabe – antiquierter Regeln, die in veralteten Sozialstrukturen wurzeln, läuft nicht darauf hinaus, das Wort Gottes zu untergraben. Im Gegenteil: Sie belegt die wahre Tiefe der heiligen Texte des Islam.

Mohammad Fazlhashemi

Aus dem Englischen von Jan Doolan

© Project Syndicate 2016