Generalamnestie für Islamisten?

Am 29. September sind die Algerier aufgerufen, über eine "Charta des Friedens und der nationalen Versöhnung" abzustimmen. Obwohl Bouteflikas Projekt einer Generalamnestie umstritten ist, wird kaum mit einer Ablehnung gerechnet. Von Bernhard Schmid

Am 29. September sind die Algerier aufgerufen, in einem Referendum über eine "Charta des Friedens und der nationalen Versöhnung" abzustimmen. Obwohl Bouteflikas Projekt einer Generalamnestie umstritten ist, wird kaum mit einer Ablehnung gerechnet. Hintergründe von Bernhard Schmid.

Algerischer Präsident Abdalziz Bouteflika; Foto: AP
Algeriens Präsident Abdalaziz Bouteflika rechnet fest mit einer breiten Zustimmung zur Generalamnestie

​​"Die Bürger haben das Dokument nicht gelesen", so lautet die Titelschlagzeile der algerischen Tageszeitung El Watan vom 14. September, zwei Wochen vor der Volksabstimmung über die "Charta für den Frieden und die nationale Aussöhnung".

Die bürgerlich orientierte Tageszeitung gibt Auszüge aus Gesprächen wieder, die ihre Journalisten in Krankenhäusern, Schulen und Unternehmen, auf Wochenmärkten und den Straßen von Algier führten. Die zitierten Reaktionen schwanken dabei überwiegend zwischen Indifferenz – als Ausdruck der Tatsache, dass viele Bewohner der algerischen Hauptstadt erklärtermaßen ihren drängenden sozialen Problemen den Vorrang einräumen – und Skepsis.

Bereits zum zweiten Mal seit seinem Amtsantritt 1999 lässt Präsident Abdelaziz Bouteflika die algerische Wahlbevölkerung zur Stimmabgabe "für den Frieden" und für ein Amnestieprojekt an die Urnen rufen. Beim ersten Mal hörte die Vorlage, über die beim Referendum vom 16. September 1999 abgestimmt wurde, auf den Namen "innere Eintracht" (concorde civile).

Straffreiheit und Eingliederungshilfen

Damals sollten die Wahlberechtigten – rund 18 der 30 Millionen AlgerierInnen – dem Amnestiegesetz seinen Segen erteilen, das faktisch bereits seit Juli desselben Jahres Anwendung fand. Sein Gegenstand war ein Amnestieangebot der Staatsmacht an jene Mitglieder islamistischer bewaffneter Gruppen, die innerhalb einer Frist von sechs Monaten (die am 13. Januar 2000 auslief) ihre Waffen abgeben würden.

Ihnen wurde Straffreiheit garantiert, mit Ausnahme jener, denen persönlich Mord, Vergewaltigung oder die Teilnahme an Kollektivmassakern sowie an Bombenanschlägen auf öffentlichen Plätzen vorgeworfen werden konnten. Die Anwärter auf die Amnestie sollten vor einer dreiköpfigen Prüfungskommission aus Richtern und Staatsrepräsentanten vorsprechen. Wer dann unter das Amnestieangebot fiel, dem wurden eine Wohnung und materielle Eingliederungshilfen versprochen.

Damals, 1999, stellte sich kaum jemand offen gegen das Amnestiegesetz. Denn Algerien stand unmittelbar am Ausgang der "heißen Phase" des Bürgerkriegs, die 1993 begonnen hatte. Und ein großer Teil der öffentlichen Meinung wünschte damals, auf kurze Frist hin, nur eines: Dass das Blutvergießen endlich aufhörte.

Die politischen Konditionen, zu denen die Staatsmacht die Friedensaussicht anbot, erschienen demgegenüber zunächst als zweitrangig. Doch für böses Blut sorgten in den darauf folgenden Jahren die materiellen Privilegien, die viele der Amnestierten genossen.

Amnestierte sollen nicht "provoziert" werden

Während Algerien in der unmittelbaren Nach-Bürgerkriegs-Periode Spitzenwerte von zeitweise offiziell über 30 Prozent Arbeitslosigkeit verzeichnete, erschien die staatlich garantierte Versorgung ehemaliger islamistischer Terroristen vielen Bürgern geradezu als anstößig.

Noch dazu fühlte sich mancher schockiert, als Präsident Bouteflika Anfang 2000 den Hinweis für angebracht hielt, die Öffentlichkeit solle die frisch Amnestierten "nicht provozieren", etwa durch "anstößige Kleidung".

Seit Jahren trug Präsident Bouteflika sich mit dem Projekt einer "nationalen Aussöhnung", deren Kern aus einem erweiterten Amnestieprojekt bestehen sollte. In seiner Rede zum 50. Jahrestag des Beginns des nationalen Befreiungskriegs gegen die Kolonialmacht Frankreich, am Vorabend des 1. November 2004, sprach Bouteflika zum ersten Mal Klartext.

Damals kündigte er eine "Generalamnestie" für alle ehemals bewaffnet kämpfenden Islamisten an, dieses Mal ohne Ausschlussfrist. Und dass der Staat die materielle Versorgung aller "Opfer der nationalen Tragödie" übernehmen werde. Dies konnte an eine – teilweise - Erfüllung der Forderungen der "Familien von Verschwundenen" denken lassen.

Entschädigungen für Angehörige

Ein Teil dieser Verschwundenen wurde in den 90er Jahren mutmaßlich durch Angehörige der Staatsorgane verschleppt und getötet – etwa weil man sie, auch irrtümlich, für islamistische Aktivisten hielt -, während ein anderer Teil sich in Wirklichkeit Untergrundgruppen angeschlossen hatte.

Im Vorjahr hat die Staatsmacht nunmehr rund 6.200 Fälle von "Verschwundenen" anerkannt. Aus Sicht der Regierung handelt es sich allerdings um individuelle Initiativen von Mitgliedern der Sicherheitskräfte, für die sie nicht direkt politisch verantwortlich gemacht werden will. Aber sie akzeptiert mittlerweile, den Angehörigen Entschädigungen zu zahlen.

Referendum als persönliches Plebiszit

Umstritten war in den politischen Parteien und den Medien vor allem Bouteflikas Generalamnestie-Vorhaben. Mit ihm will Algeriens Präsident auf internationaler Ebene erneut und verstärkt die wieder gewonnene Stabilität des Landes unter Beweis stellen.

Zum Zweiten möchte Bouteflika aber auch demonstrativ beweisen, dass der politische Einfluss der algerischen Armee – in deren Kreisen man über die Aussichten auf eine allgemeine Amnestie oft wenig Begeisterung an den Tag legt - beschnitten worden ist.

Denn innerhalb der Oligarchie des Landes verlaufen tiefe Gräben zwischen den neoliberalen Technokraten, die derzeit in vielen Ministerien sitzen, und dem eher protektionistisch ausgerichteten Flügel der Eliten. Teile der Armee sympathisieren eher mit letzterem, der im vorigen Jahr durch den gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Ali Benflis repräsentiert wurde.

Drittens aber wolle – und will – Bouteflika sich durch ein erfolgreiches Referendum gern nochmals ein persönliches Plebiszit gönnen, wie bereits 1999.

Innerhalb der politischen Klasse blieb das Projekt Bouteflikas umstritten. Der Text, den dieser nunmehr den Abstimmenden vorlegen lässt, hält die genauen Konturen des Vorhabens weitgehend offen.

Mord ist kein Ausschlussgrund

Fest steht, dass erneut allen noch bewaffnet kämpfenden Islamisten ein Amnestieangebot unterbreitet wird. Dieses Mal existiert weder eine Ausschlussfrist, noch eine Prüfungskommission. Der Text schließt aber erneut die Urheber von Vergewaltigungen, Kollektivmassakern und Bombenanschlägen von der Amnestie aus – dieses Mal fehlt aber der Hinweis auf Mord als Ausschlussgrund. Damit würden auch die Urheber etwa der gezielten Morde an Intellektuellen nach dem Gesetz straffrei ausgehen.

Was soll aber mit denjenigen Angehörigen von Untergrundgruppen geschehen, die ihre Waffen nicht freiwillig niederlegen? Eine Frage, die umso heikler erscheint, als bei diesem Mal keine ausdrückliche Ausschlussfrist, an deren Ende das Amnestieangebot ausläuft, definiert worden ist.

Ferner enthält der Text der "Charta für Frieden und nationale Aussöhnung" ein Angebot zur Übernahme materieller Entschädigungsleistungen für die Familien von "Verschwundenen".

Keine Wiederzulassung der FIS

Personen, die in Abwesenheit durch die algerische Justiz verurteilt wurden, wird ein Erlöschen des Strafanspruchs in Aussicht gestellt. Das dürfte namentlich die hohen Funktionäre der "Islamischen Rettungsfront" (FIS) betreffen, die im Exil leben und nunmehr zurückkehren könnten.

Gleichzeitig aber macht der Text der "Charta" auch deutlich, dass eine Wiederzulassung der seit 1992 verbotenen Partei und eine politische Betätigung ihrer obersten Funktionäre, "die ihre Verantwortung für die nationale Verantwortung nicht übernommen haben" nicht in Betracht kommen. Zuletzt war im Herbst 2004 vorübergehend über eine neue Zulassung des FIS unter anderem Namen spekuliert worden.

Die Kritik und Skepsis gegenüber dem Vorhaben Bouteflikas fällt deutlich vernehmbarer aus als noch 1999. Die Presse zeigt sich teilweise deutlich verschnupft - wohl auch deswegen, weil die Bestrebungen zu staatlicher Kontrolle und Zensur der privaten Zeitungen seit dem Amtsantritt Bouteflikas und vor allem in den letzten zwölf Monaten stark gewachsen sind. In der Bevölkerung sind die Reaktionen eher verhalten.

Sieg ist vorprogrammiert

Dennoch ist kaum mit einer mehrheitlichen Ablehnung an den Urnen zu rechnen, da Bouteflika nicht nur auf die geballte Propagandamacht der Staatsmedien und örtlicher Behörden bauen kann, sondern auch auf wirtschaftliche Argumente.

Der derzeitige hohe Rohölpreis auf den Weltmärkten erlaubt es dem Staatsoberhaupt, reihum Sonderbudgets für Not leidende Regionen, Zuschüsse an klientelistisch funktionierende Netzwerke und andere "Wahlargumente" zu verteilen. Auf jeden Fall dürfte Bouteflika sich am Abend des 29. September zum strahlenden Sieger erklären.

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kontakt@qantara.de Die Annahme der Vorlage wird daneben übrigens, neben dem Präsidenten und anderen führenden Politikern, noch einige andere individuelle Nutznießer haben.

Wie die algerische Tageszeitung Liberté am 8. September aus dem Bergland zwischen Boumerdès und Lakhdaria – rund 60 Kilometer östlich von Algier – berichtet, haben sich dort in jüngster Zeit viele jüngere Leute einer bewaffneten Islamistengruppe angeschlossen. Ihr Kalkül bestehe zurzeit darin, sich erst im Rahmen des "Kampfes", der die Erpressung und Ausraubung von Zivilisten einschließt, zu bereichern und später vom vorteilhaften Statut eines "Repenti" (Reuigen) und amnestierten Kämpfers zu profitieren.

"Den Untergrund für ein Statut" hat die Zeitung ihre Titelseite überschrieben. Das Agieren vieler bewaffneter Gruppen hat auch in der Vergangenheit oft handfeste materielle Beweggründe – in Gestalt von Raub und Plünderung – gehabt, aber ein solches doppeltes Kalkül treibt diese Logik auf die Spitze.

Bernhard Schmid

© Qantara.de 2005

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