Justizreformen als Grundpfeiler demokratischen Wandels

Im Nahen Osten gibt es Anzeichen für eine politische Öffnung sowie für mehr Transparenz. Doch was wären die nächsten Schritte, um diesen Wandel weiterhin aufrechtzuerhalten? Darüber sprach Rami G. Khouri mit Politologen und Rechtsexperten.

Im Nahen Osten gibt es derzeit Anzeichen für eine zunehmende politische Öffnung sowie für mehr Transparenz. Doch was wären die nächsten Schritte, um diesen revolutionären Wandel auch weiterhin aufrechtzuerhalten? Darüber hat sich Rami G. Khouri mit Politologen und Rechtsexperten unterhalten.

Die Hand einer Statue hält eine Waage in die Luft, Foto: Illuscope
Für den Aufbau einer pluralistischen Demokratie sind nicht nur freie Wahlen eine unverzichtbare Voraussetzung

​​Lässt man alle Ideologie und historischen Ballast beiseite, so laufen die Herausforderungen, denen sich der Nahe Osten in politischer wie wirtschaftlicher Hinsicht gegenübersieht auf eine einfache Frage hinaus:

Unabhängigkeit der Justiz

Werden die Gesellschaften von Menschen oder von Gesetzen bestimmt? Zählt der Einfluss von Cliquen, von religiöser oder militärischer Macht mehr als die Legitimität, die sich aus einem von objektiven und unabhängigen Institutionen gestützten Rechtssystem ergibt?

Viele Araber, die für eine verantwortungsbewusste Regierungsführung kämpfen, richten ihr Augenmerk heute auf das Primat des Rechts und die Unabhängigkeit der Justiz.

Vielleicht noch mehr als freie Wahlen allein, scheint dies eine unverzichtbare Voraussetzung für den Aufbau einer pluralistischen Demokratie zu sein, in der die gewählten Parlamente geachtet werden und in der es eine freie und verantwortungsbewusste Presse gibt, eine lebhafte Zivilgesellschaft, politische Parteien, ein funktionierendes Steuersystem und andere Kernelemente eines demokratischen Staatswesens.

Justiz als Gradmesser politischen Wohlergehens

Die wichtigste Einsicht ist sicher die, dass das Justizwesen eines Landes recht schnell reformiert werden kann, solange der politische Willen hierfür vorhanden ist. Zweitens lässt sich festhalten, dass eine gelungene Reform der Justiz einen unmittelbaren und messbaren Effekt auf das politische und ökonomische Wohlergehen eines Landes hat.

Richard E. Messick, hochrangiger Experte für den öffentlichen Sektor bei der Weltbank in Washington D.C., hat die Bedingungen und Chancen für Justizreformen im Nahen Osten auf der Grundlage von Erfahrungen in anderen Ländern ausgelotet.

Rechtsgefälle in Nahost und Nordafrika

Er und seine Kollegen dokumentieren ein gewaltiges Gefälle, wenn es darum geht, wie schnell man in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas (MENA-Region) einerseits und dem Rest der entwickelten Welt andererseits "sein Recht bekommt".

Ein Beispiel: Um eine einfache Schuld einzutreiben, braucht es in den Gerichten der MENA-Region im Durchschnitt 438 Tage, in den Ländern der OECD aber nur 230 Tage. Innerhalb der MENA-Länder wiederum variiert die Zeitspanne, die ein solcher Vorgang benötigen kann, zwischen einem Höchstwert von 700 Tagen im Libanon oder Syrien und sehr niedrigen Werten von 240 Tagen in Marokko oder gar nur 27 Tagen in Tunesien.

Eine ganze Reihe von Gründen mag dieses Gefälle erklären. Aus Messicks Sicht gehören hierzu veraltete Rechtsprozeduren, das Fehlen von Computern und anderer moderner Technik, allgemeine Nichtbeachtung des Justizwesens sowie unzureichende Ausbildung angehender Richter.

Aus dem Vergleich mit anderen Ländern der Welt ergibt sich für ihn, dass eine Reform zu 90% vom politischen Willen hierzu abhängt und nur zu 10% von den technischen Gegebenheiten.

Überall dort, wo es die aufrichtige Absicht zu einer Justizreform gibt, finden sich auch Lösungen für die technischen Probleme, meint Messick.

Paradebeispiel Dubai

So existiert in Dubai das vielleicht modernste Justizwesen überhaupt — mit einem vollautomatisierten System von Indikatoren, um die Leistungen der Richter zu messen und der Möglichkeit, festzustellen, ob Anwälte Fälle unnötig verschleppen.

Die Technik ist in arabischer Sprache vorhanden. Die einzige Frage also ist, ob es einen ernsthaften politischen Willen gibt, die offenen Probleme anzugehen.

Widerstände gegen den Wandel gibt es überall auf der Welt. Meist geht er von Anwälten aus, von Beamten und Polizeiorganen, aber auch von Großschuldnern, Hausbesitzervereinen und Bürokraten, die ihre Pfründe nicht verlieren wollen.

In den meisten Fällen werden diese Widerstände durch eine Kombination von politischer Führungskraft überwunden, durch Konsensbildung im Dialog und durch Informationskampagnen, die auf den öffentlichen Sektor wie auf die Justiz abzielen.

Die Weltbank versucht, wie auch andere Experten, in Zusammenarbeit mit Vertretern des Rechtswesens mehrerer arabischer Länder, die Situation zu verbessern. So sind sie aktiv in Marokko, Jordanien, der West-Bank und dem Gazastreifen, Jemen, Tunesien und Algerien.

Automation und effizientere Verwaltung

Die bisherige Erfahrung der Programme (bestehend aus Weiterbildung, Automation, E-Government und Verbesserungen in der Verwaltung), deutet darauf hin, dass, wenn eine Regierung sich dazu verpflichtet, die für einen Wandel nötigen Mittel bereitzustellen, viele Partner aus der ganzen Welt nur allzu gern bereit sind, technische und finanzielle Ressourcen beizusteuern.

Messick berichtet, dass es mit einem Projekt in Venezuela gelungen ist, die Zeit, die einfache Schuldprozesse und Mietauseinandersetzungen in Anspruch nehmen, um 70 Prozent gesenkt werden konnte (von fast 800 auf nur noch 200 Tage).

"Ähnliche Ergebnisse erzielten wir in Ekuador und auf den Philippinen ist ein ähnliches Projekt sehr gut angelaufen. In jedem Fall hängt es davon ab, inwieweit die lokalen Organe — Richter, Anwälte, Politiker und das Justizministerium — die Ressourcen so einsetzen können, dass sie der Sache dienen."

Der Wandel wurde möglich durch Automatisierung, eine effizientere Verwaltung der Fälle, weniger Prozessstufen, verbesserte Logistik und eine gezielte Weiterbildung.

Die Wirkung beschränkte sich schon nach kurzer Zeit nicht mehr nur auf die Justiz allein. Damit stärkt er all denen den Rücken, die sich für das rechtsstaatliche Primat auch im Nahen Osten einsetzen.

Aktives Rechtswesen und wirtschaftliches Wachstum

"Wir fanden einen ganz eindeutigen Zusammenhang zwischen der Qualität des Rechtswesens und ökonomischem Wachstum, und das sowohl im Ländergleich, als auch zwischen einzelnen Bundesstaaten innerhalb eines Landes.

Dramatische Veränderungen sahen wir etwa in Mexiko, Argentinien oder Brasilien, also Länder mit einem großen Qualitätsgefälle zwischen den Rechtssystemen.

In den Staaten, in denen die Rechtswesen aktiver sind und Fälle zügig verhandelt werden, fällt es den Unternehmen leichter Kredite zu bekommen und es gibt eine schnellere wirtschaftliche Entwicklung. So lässt sich durchaus von einem Zusammenhang zwischen einem funktionierenden Rechtswesen und ökonomischem Wachstum sprechen."

Eine andere wichtige Dimension des Einfluss des Justizwesens liegt in der veränderten Wahrnehmung des gesamten politischen Systems durch den einzelnen Bürger.

Anknüpfungspunkt für den Bürger

Für viele Bürger bedeutet das Gericht ihren ersten oder gar wichtigsten Berührungspunkt mit ihrer Regierung. Verläuft diese Begegnung positiv, meint Messick, werden Streitigkeiten meist fair und schnell beigelegt. Wenn Bürger von Amtspersonen und Richtern gut behandelt werden, verändert sich ihre gesamte Einstellung zur Regierung in positiver Weise.

Ein ermutigender Trend, der in letzter Zeit von der Weltbank und anderen in diesem Bereich tätigen Stellen verzeichnet werden konnte, ist, dass arabische Regierungen und Bürgerrechtler ihre Anstrengungen für eine breit angelegte Reform ihrer Rechtswesen verstärken und dafür auch um Hilfe von außen nachsuchen.

"Nicht wir sind es, die auf eine Reform drängen; tatsächlich tritt man an uns heran und bittet um Hilfe", sagt Messick. Ein Trend, der sich weiter beschleunigt.

"Vor zehn Jahren gab es nur wenige MENA-Länder, die sich mit dieser Frage beschäftigt haben. Heute würde ich von einer Mehrheit der Länder in dieser Region sprechen, die unsere Hilfe oder die anderer Institutionen suchen, um ihre Gerichte zu verbessern; wir haben es also mit einer Frage zu tun, die als immer drängender wahrgenommen wird."

© 2005 Rami G. Khouri

Rami G. Khouri ist Editor-at-large des in Beirut erscheinenden Daily Star, der im gesamten nahen Osten mit der International Herald Tribune erscheint.

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