Der gespaltene Kontinent

Der jüngste Triumph antieuropäischer Parteien bei der Wahl in Italien macht deutlich: Die Welle des Populismus in Europa ist weit davon entfernt, zu verebben. Unklar ist allerdings, in welchem Ausmaß die EU Gefahr läuft, von dieser Welle fortgeschwemmt zu werden. Von Zaki Laidi

Von Zaki Laidi

"Europa hat wieder Wind in den Segeln", verkündete der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, anlässlich seiner Rede zur Lage der Union letzten September. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Segel zu zerschlissen sind, um Europa voranzubringen.

Zehn Jahre nach der weltweiten Wirtschaftskrise kehrt in der europäischen Wirtschaft das Wachstum – und damit auch das Vertrauen – zurück. Und in Junckers Optimismus spiegelte sich möglicherweise auch der Triumph des proeuropäischen Kandidaten Emmanuel Macron bei den französischen Präsidentenwahlen im letzten Jahr wider, der für tiefgreifende Reformen – wie Bankenunion, Fiskalunion und einen gemeinsamen Haushalt – eintritt, um die Integration voranzubringen.

Allerdings sprechen die jüngsten Wahlen in Österreich, Deutschland und der Tschechischen Republik – und jüngst auch in Italien – eine andere Sprache: eine gravierende Bedrohung der Zukunft Europas – der Rechtspopulismus – zeigt sich nämlich immer noch sehr lebendig. Obwohl die Wirtschaftskrise vorüber ist, sind die Narben noch nicht verheilt. Die Haushalte der Mittel- und Arbeiterschicht erholen sich noch immer vom Rückgang ihrer Kaufkraft und sie erinnern sich sehr genau, wie die Banken – die vom Staat gerettet werden mussten – die Kredite beschränkten. Für viele Bürger waren die Lehren klar: im Europa von heute werden Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert.

Das Fazit dieser Einschätzung bestand in der Überzeugung, dass die wirtschaftlichen und politischen Eliten – ermöglicht von der Europäischen Union – ihre Position immer behaupten und den gewöhnlichen Menschen ihren Willen aufzwingen würden. Dieser Eindruck schien sich zu bestätigen, als man in den angeschlagenen Ländern auf Sparpolitik anstatt auf antizyklische Maßnahmen setzte, die den Abschwung gebremst hätten.

Fehlende Solidarität der EU

Um diese Wahrnehmung zu ändern, müsste die EU-Führung Einigkeit hinsichtlich der grundlegenden Ursachen der Krise erzielen und eine Strategie entwickeln, um eine weitere Krise zu vermeiden. Bislang hat man keine dieser Aufgaben bewältigt. Vielmehr warten zwei Gruppen von Ländern mit einander widersprechenden Interpretationen der Problemlage auf.

Matteo Salvini von der rechtspopulistischen Lega bei einer Wahlkampfrede in Turin; Foto: AP/picture-alliance
Ein "Tsunami des Populismus": Nach der Parlamentswahl in Italien konkurrieren die rechtspopulistische Lega von Matteo Salvini und die europakritische Fünf-Sterne-Bewegung um die Macht. Nach der historischen Niederlage der regierenden Sozialdemokraten kündigte Parteichef Matteo Renzi seinen Rücktritt an. Das Wahlergebnis wurde von europäischen Populisten freudig begrüßt. Wer das wirtschaftlich angeschlagene Italien tatsächlich in Zukunft führen wird, bleibt jedoch unklar.

Das eine Lager – dem Griechenland, Italien und, in geringerem Maße, Frankreich angehören – wirft der EU mangelnde Solidarität vor. Italien beispielsweise ordnete sich zwar der Sparpolitik unter, hat aber von der Rückkehr zu starkem Wachstum nicht profitiert. Außerdem fürchtet das Land, dass eine Bankenunion seinen Spielraum bei der Sanierung seines eigenen maroden Bankensystems einschränken würde. Und mit Frankreich und Deutschland an vorderster Front genießt Italien innerhalb der Union nicht einmal besonders Prestige.

All das erzeugt Ressentiments, insbesondere unter denjenigen, die sich von Europa abgehängt oder verraten fühlen. Aus diesem Grund gehört Italien – einst glühender Verfechter europäischer Integration – nun zu den Ländern, die heute einer weiteren Integration mit stärkster Skepsis begegnen.

Im zweiten Lager – dem Länder wie Österreich und die Niederlande angehören – beklagt man das Gegenteil. Viele Menschen in diesen Ländern haben das Gefühl, unter der „europäischen Solidarität” gelitten zu haben, obwohl sie selbst schwer arbeiteten, um ihren Wohlstand zu sichern. Angesichts dessen sind sie tendenziell der Meinung, dass sich Europa auf eine Vertiefung des Binnenmarktes und nicht auf eine vertiefte fiskalische und politische Union konzentrieren sollte. Auch hier befeuert der Widerstand gegen eine weitere Integration die Unterstützung populistischer Parteien.

Geschürte Unsicherheit

Doch die Wirtschaft ist nicht der einzige Faktor, der den Populismus schürt. Drei weitere Faktoren leisten ebenfalls einen Beitrag und der bedeutendste darunter ist zweifellos die Migration. Seit 2015, als die Zahl der Zuwanderer nach Europa stark anstieg, schlagen die Rechtspopulisten Kapital aus der weitverbreiteten Unsicherheit gegenüber Einwanderung und Identität und heizen Islamophobie und Rassismus an, um sich Unterstützung zu sichern.

British Prime Minister Theresa May delivers a key speech setting out her vision of Brexit at Mansion House on 02.03.2018 in London (photo: Getty Images/L. Neal)
Theresa May set out five tests for the future deal between the UK and the EU. She believes a broad and deep free trade agreement will be achievable and the EU referendum was a vote to "take control of our borders, laws and money" ... "not a vote for a distant relationship with our neighbours"

Während Europas Spaltung beim Thema Wirtschaft zwischen Nord und Süd verläuft, besteht die Trennlinie in der Migrationsfrage zwischen Ost und West. Die von Grenzverschiebungen und den Schikanen größerer Staaten geprägte Geschichte der Länder Mittel- und Osteuropas ließ die Kontrolle ihrer kulturellen Grenzen zu einem zentralen Teil ihrer politischen Identität werden. Und heute lehnen sie Migration in einem so starken Maße ab, dass sie sich weigern, ihrer Verantwortung als EU-Mitglieder nachzukommen und die Flüchtlingsquoten der Europäischen Kommission zu akzeptieren. Für diese überwiegend homogenen Länder könnte der Zwang zur Aufnahme von Migranten reichen, um eine EU-Mitgliedschaft trotz der damit verbundenen massiven wirtschaftlichen Vorteile uninteressant zu machen.

Weiterer Druck auf die EU – und möglicherweise auch Öl in das populistische Feuer – kommt durch den Brexit. Obwohl der Rückzug aus der EU für Großbritannien mit massiven Kosten verbunden ist, könnten frustrierte EU-Mitglieder eine Austrittsdrohung nun für wirkungsvoller und als ein potenziell taugliches Instrument betrachten, sich der Integration im Namen der nationalen Souveränität zu widersetzen.

Und obwohl die Populisten die extremsten Stimmen sein mögen, die derartigen Widerstand befürworten, sind es Europas Konservative, die sie dazu in die Lage versetzen. Die EU maßregelt Polen für die illiberale Politik seiner Regierung, toleriert aber Ungarn, weil die Fidesz-Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán mit der Europäischen Volkspartei verbunden ist und daher unter dem Schutz der deutschen Christdemokraten steht.

Populismus-Faktor Trump

Symbolbild Handelskrieg zwischen der EU und den USA; Quelle: Imago/Ralph Peters
Der "Trump-Effekt": Der dritte Faktor, der den Populismus in Europa stützt, ist US-Präsident Donald Trump mit seiner kaum verhüllten Feindseligkeit gegenüber der EU. Freilich könnte die weitverbreitete Opposition gegen Trump als eine Art einigende Kraft in der EU dienen, die umgehend reagieren würde, wenn der Protektionismus Trumpscher Prägung oder andere politische Maßnahmen letztlich eines ihrer Mitglieder direkt betreffen würde.

Der dritte Faktor, der den Populismus in Europa stützt, ist US-Präsident Donald Trump mit seiner kaum verhüllten Feindseligkeit gegenüber der EU. Freilich könnte die weitverbreitete Opposition gegen Trump als eine Art einigende Kraft in der EU dienen, die umgehend reagieren würde, wenn der Protektionismus Trumpscher Prägung oder andere politische Maßnahmen letztlich eines ihrer Mitglieder direkt betreffen würde.

Vorerst allerdings scheinen die einzelnen Länder in Europa darauf aus zu sein, ihr Glück mit Trump auf individueller Basis zu versuchen. Insbesondere Macron möchte die direkte Verbindung mit Trump nutzen, um Frankreich allgemein, aber vor allem in Europa mehr Geltung zu verschaffen, wo man den früheren Einfluss Großbritanniens wettmachen will. Andere betrachten Trump als möglichen Schutzschild und einige führende Politiker in Mittel- und Osteuropa sehen ihn auch als Legitimationsquelle für ihre eigenen populistischen Agenden.

Die Welle des Populismus in Europa ist also weit davon entfernt, zu verebben. Unklar ist allerdings, in welchem Ausmaß die EU Gefahr läuft, von dieser Welle fortgeschwemmt zu werden – und das wird wohl so bleiben, während die Grauzone zwischen den Parteien des Mainstream und den populistischen Gruppierungen weiterwächst.

Zaki Laidi

© Project Syndicate 2018

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier