Eine Karte der Heimat

Die in Kuwait aufgewachsene Autorin Randa Jarrar erzählt in ihrem Debütroman "Weiße Lügen" die facettenreiche Geschichte der eigenwilligen Nidali, Tochter einer griechisch-ägyptischen Mutter und eines palästinensischen Vaters, im amerikanischen Exil. Von Daniela Willmann

Die in Kuwait aufgewachsene Schriftstellerin Randa Jarrar erzählt in ihrem Debütroman "Weiße Lügen" die facettenreiche Geschichte der eigenwilligen Nidali, Tochter einer griechisch-ägyptischen Mutter und eines palästinensischen Vaters, im amerikanischen Exil. Daniela Willmann hat den Roman gelesen.

​​ Schon viele Romane wurden über das Auswandern und das Heranwachsen geschrieben. Immer geht es dabei um Identitätskrisen, um Konflikte mit Eltern oder der der neuen Umgebung, um Protagonisten, die zerrissen sind zwischen zwei Welten, dem Kind oder Erwachsen sein.

Auch "Weiße Lügen" behandelt all diese Themen, doch wegen der Offenheit der Protagonistin Nidali unterscheidet sich dieser Roman doch klar von anderen.

Ihre Kindheit verbringt Nidali behütet in Kuwait, dann - während des Zweiten Golfkriegs - muss Nidalis gesamte Familie nach Ägypten fliehen. Dort kann ihr Vater keine Anstellung als Architekt finden, weshalb die Familie nach Texas weiterzieht.

Skurrile Charaktere

Es sind aber nicht nur die vielen Umzüge, die Randa Jarrars ersten Roman auszeichnen, sondern auch die skurrilen Charaktere, die sie beschreibt, allen voran Nidalis Vater.

Dieser jähzornige Mann erscheint Nidali und dem Leser nur deshalb liebenswert, weil er in Wahrheit ein gescheiterter Dichter ist und sich selbst seine Fehler und sein Versagen nicht eingestehen kann. Das ganze Buch wird geprägt durch die komplizierte Beziehung zwischen dem Vater und seiner Familie.

Ganz anders ist Nidalis Mutter, eine Konzert-Pianistin die lieber Stücke von Chopin spielt, als zu kochen und sich um den Haushalt zu kümmern. Sie ist eine lebensfrohe Person, die aber in der Liebe zu ihrem Mann gescheitert ist.

Und dann gibt es da natürlich noch Fakhr, Nidalis erste Liebe, den sie in Kuwait kennen lernt und nach ihrer Flucht in Ägypten wieder trifft. Mit ihm muss sie sich heimlich treffen, weil ihr Vater und ihre arabische Umgebung ihr keine solche Beziehung zugestehen. Nicht zu vergessen Nidali selbst, die in einer ständigen Spannung zwischen den Moralvorstellungen der Familie und ihren eigenen Wünschen lebt.

Kleine Schwindeleien

Nidali bedeutet Konflikt, und genau dadurch ist auch ihr Verhältnis zu ihren Eltern, vor allem zu ihrem Vater geprägt – Konflikte, die ihr gesamtes Leben durchziehen. Nidali entflieht den Auseinandersetzungen mit ihrem Vater, indem sie sich in ihre eigene Welt aus Büchern zurückzieht.

Randa Jarrar; Foto: &copy randajarrar.com
Die Schriftsstellerin Randa Jarrar, geboren 1978, wuchs in Kuwait auf, emigrierte mit ihrer Familie nach dem Golfkrieg in die USA. Sie lebt heute in Ann Arbor (Bundesstaat Michigan).

​​Das hat den Nebeneffekt, dass sie zu einer immer besseren Schülerin wird. Sie erhält schließlich ein Stipendium und es gelingt ihr dann auch, ihre Familie zu verlassen und ein selbstbestimmtes Leben zu beginnen.

"Weiße Lügen", das sind kleine Schwindeleien, die jemanden in ein gutes Licht rücken, ohne dass er etwas Besonderes gemacht hätte. Der deutsche Titel wurde gewählt, weil diese kleinen Lügen in Nidalis Familie erlaubt sind.

Im englischen Original heißt der Roman "A map of home", was den Inhalt besser gerecht wird, denn Nidali selbst, muss sich des Öfteren fragen, wo ihr zu Hause ist und kommt jedoch zu keinem endgültigen Schluss darüber.

"Weiße Lügen" ist ein typischer "Coming-of-Age-Roman", der leicht und witzig, wie kaum ein anderer erzählt wird. Der Leser nimmt hautnah an Nidalis Entwicklung teil. Das gelingt Randa Jarrar zum einen durch ihre sehr direkte und unkomplizierte Sprache, in der sie das gesamte Buch verfasste und zum anderen dadurch, dass sie die Sprache des Romans dem Alter Nidalis anpasste.

So sind die ersten Kapitel, die die Kindheit der Protagonistin beschreiben, sehr naiv und noch etwas kindlich geschrieben. Erst im Laufe des Romans wird die Sprache, wie auch Nidali erwachsener. Der Effekt der Teilhabe an Nidalis Leben wird dadurch verstärkt, dass der gesamte Roman, bis auf ein Kapitel, in der ersten Person Singular verfasst wurde.

Strikte Chronologie

Nur das 14. Kapitel "Du bist ein vierzehnjähriges arabisches Mädchen, das gerade nach Texas gezogen ist" richtet sich direkt an den Leser. In diesem Kapitel werden Nidalis Probleme, sich in der für sie neuen amerikanischen Gesellschaft zurechtzufinden, eindrucksvoll geschildert. Es scheint fast wie eine Anklage, die sich direkt an den Leser richtet.

​​ Der Roman hat keinen wirklichen Plot oder eine eindeutige Erzählstruktur, sondern er folgt strikt chronologisch dem Leben Nidalis und ihrer Familie. Die einzigen Rückblenden sind Erzählungen ihrer Eltern aus ihrer eigenen Jugend.

Das Buch ist eben ein typischer Entwicklungsroman, in dem die Protagonistin dabei begleitet wird, wie sie versucht herauszufinden, wer sie ist und wo sie hingehört.

Es werden neben den vielen Umzügen und Konflikten auch Themen eines klassischen Entwicklungsromans behandelt, wie etwa die erste Erfahrung der Sexualität, das Ringen mit sich selbst und das Ablösen von der Familie. Themen, die jeder Teenager auf dem Weg zum erwachsen werden durchmacht – ganz gleich, welchen kulturellen Hintergrund er hat.

Genau diese Themen werden in einer gewissen Leichtigkeit erzählt. Der Roman ist zwar voll von Tragik und Zerrissenheit, doch gleitet er niemals ins Melancholische ab, sondern behält immer einen unbeschwerten Ton bei.

Als die gesamt Familie beispielsweise vor der Invasion Saddam Husseins in Kuwait nach Ägypten fliehen muss, fragt die junge Nidali in einem zornigen Brief an selbigen, ob er als er die Entscheidung traf, Kuwait zu überfallen "besonders starkes Haschisch intus" gehabt habe.

Zwischen zwei Welten

Neben den Auseinandersetzungen in einer exzentrischen Familie und Nidalis Pubertätsproblemen ist die Identitätssuche, das Leben in zwei unterschiedlichen Welten und Vorstellungen ein weiteres wichtiges Thema des Buchs. Das wird schon vor der Immigration in die USA deutlich. Denn schon in ihrer Kindheit begegnet Nidali Menschen unterschiedlichen Glaubens und Lebensanschauung.

Besonders deutlich wird das, als Nidalis strenggläubiger Cousin aus Palästina die Familie in Kuwait besucht, er entfernt die Aufkleber einer amerikanischen Superheldin, weil diese seiner Meinung nach "eine schamlose Prostituierte ist". Auch lässt er die Familie die Wettervorhersage nicht sehen, weil diese "blasphemisch" sei.

Später in Texas führt die strenge Erziehung ihres Vaters mit seinen Moralvorstellungen zu Spannungen zwischen den beiden. Er gesteht ihr keine Freiheiten zu, sondern erwartet von ihr, dass sie seine gescheiterten Träume von einer Karriere an der Universität in die Realität umsetzt.

Randa Jarrar sagt selbst, dass "Weiße Lügen" kein autobiographischer Roman sei, sondern fiktiv. Allerdings sind die Parallelen zu ihrem eigenen Leben nicht zu übersehen: Sie wurde 1978 in Chicago geboren und wuchs zwischen Kuwait, Ägypten und den USA auf.

An der Universität von Michigan studierte sie schließlich Literaturwissenschaft und Orientalistik. Bereits in dieser Zeit begann sie Kurzgeschichten zu schreiben, von denen einige ausgezeichnet wurden. Auch ihr Debütroman "Weiße Lügen" erhielt den begehrten Hopwood Award und den Arab American Book Award.

Aus der Perspektive eines Teenagers

Dadurch, dass Randa Jarrar selbst in einer arabischen Familie aufwuchs und ihre Jugend als Einwanderin in den USA verbrachte, kann sie das Leben einer arabischen Familie und die anfänglichen Orientierungsschwierigkeiten in einer neuen Welt wohl so eindringlich beschreiben.

Es gibt wenige Bücher, die so ehrlich und authentisch die Konflikte und Widersprüche innerhalb einer Familie erzählen, wie dieses. Dies gelingt Jarrar vor allem deshalb so gut, weil sie es versteht, die Geschichte aus der Perspektive eines Teenagers zu schildern.

Es wäre wohl ein Buch unter vielen, würde die Autorin dabei nicht ihr eigenes Wissen über das Leben in einer arabischen Familie und die Folgen ihrer Immigration mit einbringen. Und genau das tut Randa Jarrar in einer wunderbaren Leichtigkeit und Einfachheit.

Daniela Willmann

© Qantara.de 2010

Randa Jarrar: "Weiße Lügen", aus dem Englischen von Martin Ruben Becker, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2009, 318 Seiten

Qantara.de

Literatur aus den Vereinigten Arabischen Emiraten
Entfremdung von den eigenen Traditionen
Literatur aus den Vereinigten Arabischen Emiraten fristete lange Zeit ein Schattendasein. Doch mit der Modernisierung des Landes hat sich das inzwischen gründlich geändert. Das Internationale Buch- und Literaturfestival Basel bot jüngst Gelegenheit zur Begegnung mit einer jungen Autorin aus den Emiraten. Susanne Schanda berichtet.

Ein Besuch bei Mansoura ez-Eldin
Eine Literatur der Intimität
Die junge ägyptische Autorin Mansoura ez-Eldin gehört zu den vielversprechenden Autorinnen ihrer Generation. In ihren Romanen zeichnet sie ein einfühlsames Bild des modernen Lebens am Nil. Axel von Ernst hat sie an ihrem Arbeitsplatz in Kairo besucht.

Dossier
Deutsch-arabischer Literaturaustausch
Die Literatur ist immer ein zentrales Medium des Kulturdialogs. Dabei sind es oft Aktivitäten, die im Kleinen, ja Verborgenen stattfinden: Übersetzer und Verleger, die sich am Rande des Existenzminimums um die geliebte fremde Kultur verdient machen. Wir präsentieren deutsche und arabische Initiativen.