Das Kopftuch als Ersatzdiskurs

Ist die deutsche Gesellschaft bereit für die Integration der Muslime? Raida Chbib, Doktorandin und Referentin für politische Bildung am Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen e.V. in Köln, bezweifelt dies und fordert die Politiker zum Umdenken auf.

Von Raida Chbib

​​Mit dem Kopftuch wird aktuell all das verbunden, was in Anbetracht der Sicherheitsbedrohung durch global agierende Terroristen oder durch negative Entwicklungen in der islamischen Welt bzw. das allgemein negative Stimmungsbild über Muslime in den Islam hineinprojiziert wird.

Wenn früher mit dem Kopftuch die Unterdrückung der Frau, ihre Unmündigkeit, Rückständigkeit und Schwäche assoziiert wurden, so sind heute Terrorismus, Extremismus, Anti-Moderne und Ablehnung demokratischer Werte hinzugekommen. Dies wird auch im Rahmen der Überlegungen zur Integration von Muslimen deutlich. Diese wird immer mehr unter sicherheitspolitischen Aspekten geführt, im Lichte innenpolitischer Maßnahmen zu "Konfliktprävention" und Schadensabwendung.

Wie viel Religion verträgt die Gesellschaft?

Doch in der Politik bleibt die Frage nach der Integration von Muslimen und dem Umgang mit muslimischen Frauen mit Kopftuch in erster Linie eine migrationspolitische Debatte, da der Islam als eine fremde Religion betrachtet wird, die mit der Gastarbeitergeneration nach Deutschland hineingetragen wurde. Die wachsende Zahl deutschstämmiger und eingebürgerter Muslime wird dabei zu wenig berücksichtigt. Das Kopftuch ist somit zum Gegenstand eines Ersatzdiskurses geworden, der eine längst überfällige sachliche und zukunftsorientierte Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Umgang der Gesellschaft mit Muslimen im Besonderen und zugewanderten Menschen im Allgemeinen beiseite schiebt. Sie hat aber auch ganz andere bisher nicht hinreichend reflektierte Fragen aufgeworfen, nämlich: Wie viel Religion vertragen Staat und Gesellschaft? Wie viel kulturelle und religiöse Vielfalt will man hier zulassen?

Das Kopftuch als Ersatzdiskurs

In dieses Netz hat sich die Debatte um das Thema kopftuchtragende Musliminnen in Deutschland verfangen. Die Positionen der meisten Abgeordneten in den Landtagen, die Stellungnahmen unterschiedlicher Politiker und Meinungsumfragen unter Deutschen offenbaren, dass am Thema Kopftuch im öffentlichen Dienst diese Fragen unterbewusst aufgearbeitet werden. Die Art und Weise aber lässt zu Wünschen übrig. Davor ist zu warnen, denn diese Themen sind viel zu bedeutsam für die Zukunft Deutschlands und den gesellschaftlichen Zusammenhalt, als dass sie in dieser Unsensibilität, Einseitigkeit und Fahrlässigkeit weitergeführt werden dürfen. Eine solche Debatte verwirkt langfristig das Vertrauen der muslimischen Mitbürger und insbesondere der integrationswilligen muslimischen Frauen mit Kopftuch. Viele von ihnen haben sich aus überkommenen Traditionen befreit und bemühen sich in der Regel um eine Harmonisierung von islamischer Glaubenspraxis und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben.#

"Sind die Deutschen bereit für die Integration?"

Gerade diese Gruppe gerät immer wieder unter die Räder einer noch nicht erfolgten Anpassung der Gesellschaft an veränderte Realitäten. Die wachsende Vielfalt an Kulturen und Religionen und eine veränderte Bevölkerungsstruktur mit einem zunehmenden Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund sind zu einer Realität geworden, die manche verdrängen und andere als Provokation empfinden. Die Frage ist: Sind die Deutschen ihrerseits bereit für die Integration? Denn, so formuliert es ein Positionspapier der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung: "Man kann nicht einseitig über die Integrationswilligkeit von Migranten und Migrantinnen reden, ohne zugleich die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft einzufordern." Da die besondere Herausforderung bei der Integration gerade in der Anerkennung von Unterschieden liegt, lässt sich besonders am Beispiel des nach Außen deutlich wahrnehmbaren Schleiers der wahre Wille von Politik und Mehrheitsgesellschaft zu Integration, Toleranz und Akzeptanz artikulierter Andersartigkeit messen. Wird den praktizierenden muslimischen Frauen, die aus freien Stücken an ihrer Bekleidung, welche – wie viele betonen – Ausdruck ihrer individuellen Auffassung von Würde und Sittsamkeit ist, der Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert und zum öffentlichen Dienst verwehrt, so ist das eine deutliche Absage an eine Integrationspolitik unter Respektierung kultureller und religiöser Vielfalt.

Kopftuchdebatte verhindert Integration

Eine gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, welche als grundlegendes Ziel einer modernen Integrationspolitik gilt, wird bisweilen vielen praktizierenden Musliminnen verwehrt. Ihre Probleme auf dem Arbeitsmarkt werden durch die gegenwärtige öffentliche Debatte – ihren eigenen Aussagen zufolge -erheblich verstärkt. Kulturelle und religiöse Heterogenität aber muss von der Gesellschaft als Bereicherung und Selbstverständlichkeit in einer globalisierten Welt begriffen werden.

Symbol des Islamismus?

Den muslimischen Frauen, die auf dem Kopftuch bestehen, wird generell ein Unvermögen oder Unwillen zur Wahrung der staatlichen Neutralitätspflicht in ihrem Beruf unterstellt. Gern bezieht man sich einseitig auf Aussagen einiger "liberal denkender" Muslime, die behaupten, die Kopfbedeckung sei keine religiöse Pflicht. Eine Frau, die trotzdem darauf besteht, kann nach deren Auffassung nur durch eine "islamistische" bzw. fundamentalistische Auslegungspraxis verblendet worden sein. Die Menschen unter dem Tuch werden demnach nicht mehr als Individuen mit eigener Persönlichkeit und einer ihnen spezifischen Haltung zu Gesellschaft und Verfassung wahrgenommen, stattdessen wird eine objektive Auseinandersetzung mit Einzelfällen durch Klischeevorstellungen verklärt, welche die betroffenen muslimischen Frauen zum Sündenbock für ein ungeklärtes Verhältnis der Gesellschaft und Politik zum Islam und den muslimischen Verbänden macht. Bevor Integration von der Gesellschaft verlangt werden kann, muss interkulturelle und religiöse Kompetenz bei einigen Politikern entwickelt werden. Unvoreingenommene Sachlichkeit – auch in Bezug auf Meinungen und Einstellungen, die nicht in das eigene Denkschemata passen -, muss in Anbetracht ihrer besonderen Verantwortung für die gesamte Gesellschaft von ihnen in besonderem Maße eingefordert werden.

Den Frauen eine Chance geben

Muslimische Frauen, die mit Kopftuch an Schulen unterrichten, als Juristinnen oder als Politikerinnen arbeiten wollen und sich klar und deutlich zu den in der Verfassung formulierten Wertvorstellungen bekennen, müssen ihre Chance erhalten, im Staatsdienst die Realitäten der heutigen deutschen Gesellschaft, widerzuspiegeln. Eine Missionierungsambition oder Demokratiefeindlichkeit darf ihnen nicht von vornhinein unterstellt werden. Die angebliche "Signalwirkung" ihrer religiösen Bekleidung muss nicht automatisch als Verletzung der negativen Glaubensfreiheit anderer verstanden werden. Vielmehr könnte eine Frau in öffentlichen Berufen die verzerrten Wahrnehmungsmuster und Vorurteile in Bezug auf fromme muslimische Frauen mit der Zeit aufbrechen. Sie müsste sich jedoch als Beamtin im Staatsdienst, wie andere auch, in religiösen und weltanschaulichen Fragen neutral verhalten.

Raida Chbib

© Qantara.de 2004