Macht Migration krank?

Arbeitslosigkeit, beengte Wohnsituation, Anpassungsdruck: Migranten sind oft hohen psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt, die in Krankheit oder familiärer Gewalt münden können. Betül Licht kennt dieses Phänomen aus ihrer Arbeit und hat darüber nun einen Roman verfasst. Von Ute Hempelmann

Symbolbild; Foto: Bilderbox
Viele Migranten scheuen den Besuch eines Psychiaters oder einer Beratungsstelle. Nur langsam wird professionelle Hilfe für die eigene Psyche akzepiert.

​​Fatma ist beim Doktor. Die Schülerin türkischer Herkunft klagt über Herzschmerzen und möchte vom Sportunterricht befreit werden. Doch bei der Untersuchung kann der Arzt nichts finden. Einfühlsam fragt er Fatma nach dem eigentlichen Grund, ein Attest zu wollen. Vom Streit in der Familie erzählt Fatma ihm nichts. Aber zum ersten Mal zeigt sie einem Fremden ihren Kummer:

"Mein Schluchzen hinderte mich daran zu sprechen. Ich schämte mich so sehr, dass ich noch nicht einmal die Wahrheit offenbaren konnte. Irgendwann hörte ich meine piepsige Stimme sagen: 'Ich bin in einer sehr großen Not. Bitte geben sie mir ein Attest.'"

Die Szene ist realistisch, auch wenn sie aus einem Roman stammt. "In meiner Not rief ich die Eule" heißt das Erstlingswerk der türkischstämmigen Autorin Betül Licht, die selbst als Kind mit ihren Eltern nach Deutschland kam.

In ihrem Buch lenkt sie den Blick auf das Schicksal eines jungen Mädchens, dessen Familie bei dem Versuch scheitert, in Deutschland heimisch zu werden, und zudem auf ein wichtiges, doch bislang kaum beachtetes Phänomen: die psychische und physische Belastungen einer Migration.

Dauerbelastung der Psyche

Licht hat sie am eigenen Leibe erlebt: Die Spannungen, die aus den Normen und Werten ihrer Herkunftskultur und den Anforderungen des Lebens in einer neuen Heimat erwachsen.

Arbeitslosigkeit, beengte Wohnsituation, Orientierungslosigkeit in der Fremde, soziale Kontrolle durch die eigenen Landsleute und die Unfähigkeit über all diese Probleme zu sprechen, erzeugen eine Dauerbelastung der Psyche, die sich explosionsartig entladen kann: in familiärem Stress und Streit, in Isolation oder Krankheit und in Extremfällen auch in Gewalt.

Bild Betül Licht; Foto: Ute Hempelmann
Betül Licht wurde 1955 in der Türkei geboren, 1965 kam sie gemeinsam mit ihren Eltern nach Deutschland. Sie kennt die Belastungen einer Migration, den Anforderungen der alten und neuen Heimat gerecht zu werden.

​​Betül Lichts Roman beruht auch auf ihrer beruflichen Erfahrung: Sie arbeitet seit acht Jahren als Heilpraktikerin für Psychotherapie in der Beratungsstelle "Hamburgische Brücke" – zusammen mit ihrem türkischstämmigen Kollegen Cenk Kolcu. Beide verstehen nicht nur Türkisch, sondern auch die Sorgen und Nöte von Einwanderern.

Doch noch immer ist es für viele Migranten nicht selbstverständlich, ihr Inneres vor einem psychologisch geschulten Fremden auszubreiten. "Vor Jahren war das ganz undenkbar", sagt Licht. Mittlerweile wird die Unterstützung jedoch dankbar angenommen. "Wie? Hast du etwa keinen Psychologen?", zitiert Kolcu die Mutigen.

In ihrem Roman beleuchtet Betül Licht vor allem die Situation der Kinder: Zerrissen zwischen dem Wunsch, Kontakte zu Deutschen zu knüpfen und in der neuen Heimat Fuß zu fassen, aber gleichzeitig auch den religiösen und moralischen Anforderungen und Verboten der Familie zu folgen.

Oft ausgeblendet: Die Rolle der Frauen

"Ein gutes, reines Mädchen zu sein, das den Blick senkt und keine eigene Meinung äußert", lässt Hauptperson Fatma in "die weiße Welt" flüchten. Sie versinkt in Depressionen, die zunehmend bedrohlicher werden: Selbstverstümmlungen und Selbstmordphantasien sind lautlose Hilfeschreie, die die Umwelt nicht wahrnimmt.

Anschaulich zeigt Licht, wie Überforderung und Hilflosigkeit der gesamten Familie in Gewalt münden. Im Fall von Fatma geht diese von Frauen aus: Mutter und Großmutter quälen und schlagen sie. Was Licht in ihrem Roman beschreibt, deckt sich mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen: So wie die tragende Rolle der Frauen und Mütter beim Prozess der Migration und Integration oft übersehen wurde, so wurde ebenso konsequent ausgeblendet, dass nicht wenige dabei versagen.

"Gewalt von Frauen in Migrantenfamilien ist ein Tabuthema", glaubt Licht. Gewalt in der Erziehung kann generell auf einzelne Mütter zutreffen, doch die Belastung von Müttern mit Migrationshintergrund – und damit das Gewaltrisiko – ist oft größer.

"Der ständige Druck macht krank"

Als Fremde und Neuankömmlinge tragen Frauen häufig die größte Belastung, weil sie zwischen allen Familienmitgliedern vermitteln, gleichzeitig fehlt ihnen aber oft ein Ventil: Außenkontakte sowie Sprachkenntnisse.

Bild Cenk Kolcu; Foto: Ute Hempelmann
Auch für Cenk Kolcu gilt: Er spricht nicht nur Türkisch, sondern versteht auch die Sorgen der Migranten. Gemeinsam mit Betül Licht arbeitet er in der Beratungsstelle "Hamburgische Brücke".

​​ Auf die Entwurzelung einer Migration reagieren Menschen unterschiedlich: Manche leiden psychisch, andere körperlich. Mal versagt die Bandscheibe, mal droht Fettleibigkeit mit überhöhtem Blutdruck, mal Diabetes. "Der ständige Druck macht krank", sagt Lichts Kollege Kolcu.

Jürgen Collartz von der Medizinischen Hochschule Hannover schätzt, dass Einwanderer ein zehnmal größeres Krankheitsrisiko haben als Deutsche. Bedeutet das im Umkehrschluss, das Migration krank macht? Nicht zwangsläufig, argumentieren Ärzte und geben eine verblüffende Rückmeldung: Integration sei gesundheitsfördernd.

Mit anderen Worten: Gelingt der schwierige Balanceakt zwischen Selbstbehauptung und Anpassung an die veränderten Umstände, dann fördert das Selbstbewusstsein und körperliches Wohlbefinden.

Häufig aber wird der Arztbesuch eines Patienten ausländischer Herkunft selbst zu einem Spagat, der in neuen Missverständnissen mündet. In sozialmedizinischen Gutachten über türkische Migranten finden sich Aussagen wie: "Ihr Verhalten ist leidensbetont mit demonstrativen Schmerzangaben" und "jede Bewegung des Körpers wird von Schmerzbekundungen begleitet".

Deutsche Ärzte verstehen das in ihrer Wahrnehmung übertriebene Jammern und Stöhnen von Patienten aus anderen Kulturkreisen oft falsch, wie die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Marianne Röhl in ihrem Nachwort zu Lichts Roman ausführt:

​​ "Als ich vor circa 30 Jahren die ersten Kontakte zu Menschen mit Migrationshintergrund aus der Türkei hatte, war ich, eine naturwissenschaftlich ausgebildete Ärztin des monokulturellen Medizinbetriebs beleidigt, als mir eine Frau auf die Frage nach ihren Beschwerden antwortete, es seien 'Wüstenstürme' in ihrem Kopf, die bis in die Füße zögen. Eine andere meinte, sie sei stundenlang bewusstlos gewesen, nachdem sie sich erschreckt hatte."

Oft fehlt eine "kulturelle Übersetzung"

Was deutsche Ärzte zuweilen verständnislos als "Theater" abtun, bedeutet in der "kulturellen Übersetzung" allerdings nichts anderes als die Botschaft: "Schau her, ich bin krank und brauche Hilfe." Die Missverständnisse werden dadurch verstärkt, dass Migranten oft gar nicht wissen, dass es medizinische Disziplinen wie Psychotherapie gibt. Folglich können sie kaum erkennen, dass körperliche Beschwerden möglicherweise psychische oder soziale Ursachen haben.

Ahmet Kimil ist Diplom-Psychologe und arbeitet im Ethno-Medizinischen Zentrum e.V. in Hannover. "Migration macht verletzlich", sagt er. In einer vergleichenden Studie mit der Medizinischen Hochschule Hannover, die vom Bundesforschungsministerium für Forschung finanziert wurde, hat das Zentrum insgesamt 600 russische und türkische Einwanderer interviewt.

Beide Gruppen wiesen deutlich größere psychische Belastungen auf als Deutsche; bei den Untersuchten türkischer Herkunft waren die Werte noch Besorgnis erregender als bei den russischen. "Neben den sozialen, psychischen, kulturellen müssen türkische Einwanderer auch noch die religiösen Unterschiede kompensieren", interpretiert Kimil das Ergebnis.

Bei der Verständigung über gesundheitliche Fragen müssen zwangsläufig beide Seiten dazu lernen – Einwanderer wie deutsche Ärzte. Das macht Kimil an einem Beispiel aus seiner psychotherapeutischen Arbeit deutlich. Eine gebildete, religiöse Muslima hatte den Psychologen türkischer Abstammung aufgesucht, obwohl sie bereits bei deutschen Kollegen wegen einer Depression in Behandlung gewesen war.

"Die hätten schon geholfen", erklärte sie, formulierte aber auch Unbehagen. Die deutschen Spezialisten hatten ihre Familie und ihr Kopftuch reflexartig als Kern des Problems diagnostiziert und sie aufgefordert, sich davon zu trennen, was die Patientin anders sah. Möglicherweise fehlte den Ärzten die Bereitschaft neugierig zu sein, zuzuhören und dazuzulernen.

Ute Hempelmann

© Qantara.de 2008

Ute Hempelmann, geboren 1963, lebt als Autorin in Hamburg. Sie arbeitet für ARD-Hörfunksender und schreibt für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften.

Betül Licht, In meiner Not rief ich die Eule: Eine junge Türkin in Deutschland, Hoffmann und Campe, gebundene Ausgabe, August 2008.

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