Sehnsucht nach dem Feind

In Sachsen gibt es kaum Muslime. Doch gerade das ist die Bedingung dafür, dass der Islam dort als Feindbild aufgebaut werden kann. Die Pegida-Bewegung marschiert aus Angst vor dem Imaginären. Ein Essay von Byung-Chul Han

Essay von Byung-Chul Han

Im Song von Helene Fischer "Fehlerfrei" heißt es: "Verplant und verpeilt, danebengestylt, so komme ich mir manchmal vor. Unverhofft und gehemmt, das Zeitgefühl klemmt, mit mir selbst nicht ganz d'accord. Ich will mich beweisen und droh' zu entgleisen, mit Vollgas gegen die Wand. Katastrophal."

Dieser Song bringt genau die Seelenlage vieler Deutscher zur Sprache. Viele sind heute von diffusen Ängsten geplagt, Angst zu versagen, Angst zu scheitern, Angst, abgehängt zu werden, Angst, einen Fehler zu machen oder eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Wir leben längst in einer Gesellschaft der Angst.

Aus Angst heraus konstruieren Menschen einen imaginären Feind

Viele haben Angst, den eigenen Ansprüchen nicht genügen zu können. Sie befinden sich in einem Dauerzwist mit sich selbst. Sie beschuldigen aber nur sich selbst für ihr Versagen. Sie schämen sich für die eigene Unzulänglichkeit. Diese Angst ist keine Angst vor dem bedrohlichen Anderen, vor dem Feind oder vor dem Fremden, sondern Angst um sich.

In einem Gastbeitrag "Warum heute keine Revolution möglich ist", der am 2. September 2014 in der "Süddeutschen Zeitung" veröffentlicht wurde, habe ich darauf hingewiesen, dass heute der Klassenkampf sich in einen inneren Kampf mit sich selbst verwandelt. Wer scheitert, beschuldigt sich selbst und schämt sich. Man problematisiert sich und nicht die Gesellschaft, obwohl das eigentliche Problem von der Politik verursacht worden ist.

Pegida-Kundgebung in Dresden, Foto: picture-alliance/dpa/Hendrik Schmidt
Wieder ist die Logik des Sündenbocks am Werk: Die Pegida-Demostranten projizieren ihre Angst auf die Muslime: Anhänger des "Pegida"-Bündnisses demonstrieren am 22.12.2014 in Dresden gegen die angebliche Überfremdung durch Flüchtlinge und schwenken eine Deutschlandfahne. Die Veranstalter luden zu einem "gemeinsamen Weihnachtsliedersingen" auf den Platz vor der Semperoper ein.

Aus Menschen, die sich selbst beschuldigen und sich schämen für ihr Versagen, lässt sich keine Protestmasse formen, die die Gesellschaft, das System infrage stellen würde. Der Andere als Feind entlastet auch das neoliberale Leistungssubjekt, das den Feind bei sich selbst ausmacht und mit sich selbst Krieg führt.

Das heutige Leistungssubjekt arbeitet sich nicht an externen Feinden, sondern an sich selbst ab. Gerade die Konstruktion des Anderen als Feind externalisiert den inneren Konflikt und entlastet dadurch die Psyche. So erwacht vielerorts eine Sehnsucht nach dem Feind.

Aus der lähmenden Angst, abgehängt zu werden oder nicht mehr dazuzugehören, befreien sich Menschen, indem sie einen imaginären Feind konstruieren. Pegida - "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" - eröffnet einen solchen imaginären Raum, in dem die Angst, die jeder für sich oder um sich hat, externalisiert wird und mit einem anderen Objekt, hier mit dem Islam, besetzt wird.

Die externalisierte Angst entlastet die Seele. Das Objekt der Angst ist nun benenn- und bekämpfbar, selbst wenn es im Imaginären situiert ist. Vermittels des imaginären Feindes erlangen Menschen wieder den Zutritt ins System. Über das Imaginäre finden sie ins System zurück, von dem sie sich abgehängt fühlen. Der Ausschluss des imaginären Fremden befreit sie von dem Gefühl, nicht dazuzugehören. Er erzwingt das Gefühl der Zugehörigkeit ins System.

Auffallend für die Beteiligten ist, dass sie schweigend marschieren. Sie formulieren keine Ziele, stellen keine konkreten Forderungen auf. Sie weigern sich zu reden. Der Grund ist offenbar: Sie wollen sich nicht aus dem imaginären Raum hinausdrängen lassen.

Es ist nicht leicht, den Islam als Feind aufzubauen, wenn die Realität stark dagegen spricht

Hier hilft es wenig zu versuchen, sie auf die Realität zurückzubringen und sie darauf hinzuweisen, dass es in Dresden kaum Muslime gebe, dass von der Islamisierung nicht die Rede sein könne. Sie entziehen sich der Realität, um ihren imaginären Raum zu schützen, der für sie befreiend wirkt. Sie werden daher jeden Versuch, sie auf den Boden der Realität zurückzubringen, aggressiv abwehren. Hier liegt eine Verneinung vor, zu der nur eine Psychoanalyse Zugang hätte.

Bundeskanzlerin Angela Merkel; Foto. Reuters/Maurizio Gambarini/Pool
"Wenn Angela Merkel nur noch von der 'Hetze' gegen Ausländer spricht, hat sie nichts begriffen. Das eigentliche Problem ist nicht die Fremdenfeindlichkeit, sondern die wachsende Unsicherheit und Angst in der Bevölkerung", schreibt Byung-Chul Han.

Die Protestierenden externalisieren ihre Angst, indem sie sie auf den imaginären Feind beziehen. Hier ist wieder die Logik des Sündenbocks am Werk. Früher waren es die Juden, nun sind es die Muslime. Die Geschichte wiederholt sich. Die Politiker schauen nur zu und begnügen sich mit Ferndiagnosen. Oder sie schüren die Angst, um politisch daraus Kapital zu schlagen.

Eigentlich sollten sie froh sein, dass die Wut der Protestierenden sich nicht gegen sie, sondern gegen den imaginären Feind richtet. Pegida ist das Zerrbild einer Gesellschaft, in der die Politik versagt hat. Menschen begeben sich ins Imaginäre, um sich das Gefühl zu verschaffen, wieder in die Gesellschaft zu gehören.

Wenn Angela Merkel nur noch von der "Hetze" gegen Ausländer spricht, hat sie nichts begriffen. Das eigentliche Problem ist nicht die Fremdenfeindlichkeit, sondern die wachsende Unsicherheit und Angst in der Bevölkerung. Besorgniserregend ist auch das Verschwinden des Vertrauens in der Gesellschaft. Und viele haben das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören.

Wenn man diesen Ängsten nicht politisch beikommt, brechen sie sich Bahn durch das Imaginäre. Gerade in diesem imaginären Raum blüht der Fremdenhass. Pegida bedeutet vor allem das Versagen der Politik. Angela Merkel verdeckt es, wenn sie nur vor Fremdenfeindlichkeit warnt.

Dass es in Sachsen kaum Muslime gibt, ist gerade die Bedingung dafür, dass hier der Islam als Popanz aufgebaut werden kann, unter dem Menschen unterschiedlicher Gruppierungen sich versammeln. Im Westteil von Berlin wäre das wohl nicht möglich, weil hier die Muslime bereits eine Realität darstellen, von der keine wirkliche Bedrohung ausgeht. Wo keine Realität da ist, blüht das Imaginäre.

Ein Anhänger des «Pegida»-Bündnisses (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) demonstriert am 22.12.2014 in Dresden; Foto: picture-alliance/dpa/Kay Nietfeld
"Menschen marschieren im Imaginären gegen einen Popanz": Anhänger des "Pegida"-Bündnisses (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) demonstriert am 22.12.2014 in Dresden

Der imaginäre Feind hat eine therapeutische Wirkung. Die Negation des Feindes verhilft Menschen, die sich abgehängt fühlen, zu einem Zugehörigkeitsgefühl. Der imaginäre Feind holt sie wieder ins Sein zurück. Über das Imaginäre finden sie in die Gesellschaft zurück. Es verhilft ihnen dazu, sich zu artikulieren, sich zu zeigen, ja überhaupt da zu sein. Wenn man ihnen den imaginären Raum, den imaginären Feind wegnähme, würden sie hart auf den Boden der Realität aufschlagen und wieder in die diffuse Angst oder in das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören, versinken.

"Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt"

Dem imaginären Feind steht "Wir sind das Volk" gegenüber. Wie der Islam ist das Volk im imaginären Raum angesiedelt. Die Menschen, die verunsichert sind, die das Gefühl haben, nicht mehr dazuzugehören, geraten in eine Identitätskrise. So beanspruchen sie das Volk als identitätsstiftende Instanz. Auch das Konstrukt des Feindes stiftet eine Identität.

Schon Carl Schmitt hat das erkannt: "Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt. Aus diesem Grunde muss ich mich mit ihm kämpfend auseinandersetzen, um das eigene Maß, die eigene Grenze, die eigene Gestalt zu gewinnen." Das Problem ist nur, dass der Feind in unserem Fall im Imaginären angesiedelt ist. Daher ist es nicht möglich, sich mit ihm "kämpfend" auseinanderzusetzen. Vom imaginären Feind führt kein Weg zur eigenen Gestalt, zur eigenen Identität.

Das Konstrukt des imaginären Feindes verdrängt die Ebene des Realen, auf der allein die wirklichen Probleme erkannt, benannt und angegangen werden können. Innerhalb des Imaginären lässt sich kein reales Problem lösen. Wenn die Menschen irgendwann wieder aus dem imaginären Raum herausfallen, werden sie erneut von diffuser Angst geplagt sein. Hier hilft ihnen nicht einmal das Volk, weil es seine Wirkung nur im Imaginären entfaltet.

Nicht nur in Dresden sind Menschen verunsichert und von diffusen Ängsten geplagt. In Westdeutschland ist es aber nicht leicht, den Islam als einen imaginären Feind aufzubauen, weil die Realität stark dagegen spricht. Wenn es aber ihnen gelänge, ihrerseits einen imaginären Raum aufzubauen, so ließen sich auch dort Protestmassen mobilisieren. Ist also eine Revolution doch möglich? Wahrscheinlich nur in pervertierter Form. Menschen marschieren im Imaginären gegen einen Popanz.

Byung-Chul Han

Der Philosoph Byung-Chul Han lehrt an der Berliner Universität der Künste. Zuletzt erschien sein Buch "Psychopolitik: Neoliberalismus und die neuen Machttechniken."

© Süddeutsche Zeitung 2014