Geschlossene Abwehrkette

Der Kampf der autoritären Staats- und Regierungschefs in der Türkei und in Ägypten um die Kontrolle der Fußballstadien und öffentlichen Räume versetzt militante Fußballfans in Aufruhr. Von James M. Dorsey

Von James M. Dorsey

Jahrelange Auseinandersetzungen in den Stadien und bei Massenveranstaltungen griffen von den Tribünen auf die Straßen über und mündeten 2011 in Proteste gegen die Regierung, die schließlich zum Sturz des ägyptischen Staatspräsidenten Hosni Mubarak führten. 2013 erschütterten die Protestbewegungen auch die Türkei und ließen in der Folge die autokratischen Züge von Präsident Recep Tayyip Erdoğan erstarken.

Der vom General zum ägyptischen Präsidenten mutierte Abdel Fattah al-Sisi verlagerte eine neue Abteilung seines Innenministeriums nach Neu-Kairo, östlich der ägyptischen Hauptstadt, in die dortige Polizeiakademie. Hierhin wurde das Ministerium zuvor aus der Innenstadt von Kairo verlegt, wo es seit längerem Ziel von Protesten ist. Die Polizeiakademie fasst die Generalstaatsanwaltschaft, die Staatssicherheit sowie Justizbehörden mit der Absicht zusammen, den Demonstranten in Zeiten steigender Unzufriedenheit die symbolischen Ziele ihres Protestes zu nehmen.

"Die Sicherheitslage ist eng verbunden mit den regierungskritischen Aktionen gewisser Demonstranten im Zentrum von Kairo, die Chaos im Land verbreiten wollen", so der ehemalige Leiter der Polizeiakademie, General Ahmad al­-Badry, gegenüber der Online-Publikation "Al-Monitor".

"Das gilt umso mehr, seit die Demonstrationen selbst so chaotisch geworden sind. Außerdem versuchen sie, die Autorität staatlicher Institutionen durch ständige Belagerung zu untergraben. Hierzu werden die Wände der Gebäude mit vulgären Bildern und abfälligen Bemerkungen über die dortigen Mitarbeiter beschmiert. Die sicherheitstechnischen Herausforderungen, vor denen das Land steht, veranlassten das Ministerium dazu, seine Bauvorhaben zu beschleunigen", so General Al-Badry.

Die Furcht des Generals vor der Macht der Fans

Der offen eingestandenen Furcht des Generals vor der Macht der Fans ging im Februar ein beispielloses Angebot voraus, das Sisi als Kopf einer der wohl repressivsten Regierungen in der jüngeren Geschichte Ägyptens seinen Gegnern machte.

Al-Ahly-Ultras gedenken am 26. Januar  2013 in Kairo an das Massaker von Port Said; Foto: Reuters
Ägyptens Fußballfans auf den Barrikaden: Die Anhänger des Kairoer Clubs "Al-Ahly", Ultras, die die meisten Toten während der Stadionunruhen von 2012 in Port Said zu verzeichnen hatten, sehen sich als Opfer einer staatlich lancierten Kampagne. Vielen Ägyptern gelten sie noch immer als "Helden der Revolution" im Jahr 2011. Sie waren an allen 18 Tagen des Aufstandes gegen das Mubarak-Regime an vorderster Front.

So ließ sich Sisi telefonisch einer Fernsehsendung zuschalten, die zum vierten Jahrestag einer politisch aufgeladenen Schlägerei in einem Stadion von Port Said am Suezkanal ausgestrahlt wurde. Damals starben 72 militante Unterstützer des traditionsreichen Kairoer Fußballvereins "Al-Ahly SC". Sisi bot den Fans an, selbst zehn ihrer Mitglieder für eine unabhängige Untersuchung des Vorfalls zu benennen.

Sisi ist damit zum ersten Mal überhaupt auf seine Gegner zugegangen, von denen viele durch die Sicherheitskräfte des Innenministeriums getötet, in den Untergrund oder ins Exil gezwungen oder in Gefängnissen festgehalten werden, wo ihnen Misshandlung und Folter droht.

Die militante Fangruppe "Ultras Ahlawy" wies die Einladung mit der Begründung zurück, man könne nicht gleichzeitig Ankläger und Richter sein, ohne die Tür zum Dialog zuzuschlagen. Die Fangruppe spielte 2011 beim Sturz von Mubarak und in vielen regierungsfeindlichen Demonstrationen eine Schlüsselrolle.

Hintertüren für Politiker

Obwohl die ägyptischen Stadien seit fast fünf Jahren für die Öffentlichkeit gesperrt sind und obwohl Sisi die Fans mit seinem Angebot nicht auf seine Seite ziehen konnte, so unterscheidet sich sein Verhalten dennoch deutlich von Erdoğans arroganter Verweigerung jeglicher Zugeständnisse an eine soziale Kraft, die auf der Straße eine beachtliche Macht besitzt und ihre Fähigkeit, diese auszuüben, immer wieder unter Beweis stellt.

Der ägyptische Militärputsch im Jahr 2013, mit dem der erste und einzige demokratisch gewählte Präsident Mohamed Mursi aus dem Amt entfernt wurde, und die brutale Unterdrückung der Muslimbruderschaft sorgen zwischen Sisi und Erdoğan für Streit. Beide verfolgen heute in ihren jeweiligen Ländern gegensätzliche Konzepte, nachdem sie vergeblich versuchten, militante Fangruppen per Gerichtsbeschluss als terroristische Vereinigungen einstufen zu lassen.

"Wir werden Euch nicht vergessen!" - Gedenktafel in Kairo zu Ehren der 72 getöteten Ahly-Fans bei den Stadion-Ausschreitungen im Jahr 2012; Foto: Arian Fariborz
"Wir werden Euch nicht vergessen!" - Gedenktafel in Kairo zu Ehren der 72 getöteten Ahly-Fans bei den Stadion-Ausschreitungen im Jahr 2012

Während Sisi die Öffentlichkeit weiterhin aus den Stadien aussperrt und dadurch hofft, die öffentlichen Räume zu kontrollieren und Sportstätten nicht zum Schauplatz von Protesten werden zu lassen, setzt Erdoğan als ehemaliger semiprofessioneller Fußballspieler auf totale Kontrolle. Hierzu untersagte er – mit begrenztem Erfolg – politische Parolen und Sprechchöre während der Spiele und setzte ein elektronisches Überwachungssystem durch, das von vielen als Versuch zur Identifizierung regimekritischer Fans gesehen wird.Dieses System löste einen massiven Boykott aus. Viele Besucher blieben den Stadien fern. Parallel dazu ließ Erdoğan regierungsfreundliche Fangruppen gründen, die sich gegen regierungskritische Fans in Stellung bringen sollten.

Die gescheiterte Gleichschaltung der Fußballfans steht im krassen Gegensatz zum Erfolg Erdoğans in Hinblick auf die Zähmung der türkischen Presse und der Beschneidung der akademischen und sonstigen Freiheiten.

"Kommt und besprüht uns mit Tränengas"

Erdoğans Versuch, die Eröffnung der neuen Vodafone Arena des legendären Fußballvereins Beşiktaş Istanbul mit regierungsfreundlichen Symbolen aufzuladen, die die ruhmestrunkene Geschichtsverherrlichung des Präsidenten unterstützen sollten, wurde von schweren Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und tausenden Fans konterkariert, die von der Eröffnungsfeier ausgeschlossen wurden.

Die Eröffnung des Stadions erinnerte an dessen Schließung im Jahr 2013, als es noch Inönü-Stadion hieß. Offiziell wurde das Stadion wegen Umbauarbeiten geschlossen, inoffiziell dürften politische Gründe mitgespielt haben: Die Çarşı als bedeutendste Fangruppierung der Beşiktaş-Fans spielten seinerzeit eine Schlüsselrolle in den regierungskritischen Protesten im Gezi-Park.

Proteste von Beşiktaş-Fans vor einem Gericht in Istanbul am 16. Dezember 2014; Foto: Reuters
Proteste von Beşiktaş-Fans vor einem Gericht in Istanbul gegen ein politisch motiviertes Verfahren gegen 35 Beşiktaş-Anhänger: Die Çarşı als bedeutendste Fangruppierung der Beşiktaş-Fans spielten seinerzeit eine Schlüsselrolle in den regierungskritischen Protesten im Gezi-Park.

Auch 2016 während des Eröffnungsspiels im neuen Stadion setzte die Polizei Tränengas und Wasserwerfer ein, um die Beşiktaş-Fans auseinanderzutreiben. Fans, die es ins Stadion schafften, trotzten dem Verbot politischer Gesänge mit Sprechchören aus dem Gezi-Park, wie "Kommt und besprüht uns mit Tränengas" und "Wir sind Mustafa Kemals Soldaten" als Referenz an Mustafa Kemal Atatürk, der die moderne Türkei aus den Ruinen des Osmanischen Reichs schuf und als Vater des militanten türkischen Laizismus gilt.

Krieg auf und abseits der Fußballfelder

Erdoğans Bemühungen um eine Manipulation der Fußballszene zu seinen Gunsten wurden von nationalistischen Stimmungen flankiert; ihrerseits befeuert durch die Absage internationaler und nationaler Sportveranstaltungen vor dem Hintergrund der Angriffe von Dschihadisten und kurdischen Separatisten in großen türkischen Städten.

Die Angriffe veranlassten die "European Table Tennis Union" (ETTU) (Europäische Tischtennisvereinigung) zur Verlegung des europäischen Qualifikationsturniers für Einzelwettbewerbe aus der Türkei nach Schweden. Zudem wurden einige bedeutende türkische Fußballturniere und -spiele verschoben. Lukas Podolski, bei Galatasaray Istanbul als Stürmer verpflichtet, denkt nach den Angriffen darüber nach, der Türkei den Rücken zu kehren.

Erdoğan befeuert bekanntlich Verschwörungstheorien, nach denen dunkle Kräfte – darunter Zionisten, Deutschland, Großbritannien und die USA als Drahtzieher – ständig gegen die Türkei agieren. Die regierungstreuen Medien lassen sich den Ball im Kampf um die Deutungshoheit auf dem Fußballfeld bereitwillig zuspielen.

"Chaos durch Fußball: Verräterbande will Türkei destabilisieren." So titelte die türkische Sportzeitung "fotomac" im Februar, nachdem ein Fan in der Schwarzmeerstadt Trabzon einem Schiedsrichter eine rote Karte aus Protest gegen die aus seiner Sicht parteiische Entscheidung entriss.

"Dem Vernehmen nach agiert ein Geheimbund hinter den Kulissen des türkischen Fußballs", so das Blatt weiter. "Über den Fußball soll diese Bande das Land mit massiven Protesten auf den Straßen ins Chaos stürzen. Nachdem der Geheimbund bereits bei den Protesten im Gezi-Park mit seinem Vorhaben scheiterte, sucht er sich jetzt 'Trabzonspor' als Zielscheibe aus. Er provoziert die Fans dieses Teams unter dem Vorwand schiedsrichterlicher Fehlentscheidungen", schreibt 'fotomac' mit Verweis auf den bekannten Fußballverein aus Trabzon.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan bei der Beşiktaş-Stadioneröffnung im April 2016; Foto: Reuters
Das Stadion von Beşiktaş war im April 2016 offiziell von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan vor nahezu leeren Rängen eröffnet worden. Mitglieder der Beşiktaş-Ultra-Gruppierung Çarşı hatten 2013 eine Schlüsselrolle in einer Protestwelle inne, die Istanbul und später weitere Teile des Landes erfasste. 35 Çarşı-Mitglieder wurden wegen eines angeblichen Putschversuches vor Gericht gestellt, im Dezember 2015 aber freigesprochen.

Trotz der erheblichen Unterschiede, die das politische Umfeld in Ägypten und in der Türkei kennzeichnen, lassen sich die Fans in beiden Ländern nicht einschüchtern und nutzen jede Gelegenheit, sich und ihren Forderungen Gehör zu verschaffen. Dies gilt insbesondere für den Zugang zu und die Vorherrschaft in den Stadien.

Die Fans in Ägypten bildeten vergangenen Monat die Grundlage für sporadische aber wachsende regierungskritische Aktionen, als sie sich aus Protest gegen ihre Aussperrung den Weg in ein Fußballstadion bahnten.

"Brot, Freiheit – die Inseln sind ägyptisch!"

In der Mittelmeerstadt Alexandria stürmten die "Ultras Ahlawy" das Al-Arab-Stadion während eines Spiels der Afrikanischen Meisterschaften. Dies war in der Fußballszene der erste größere Vorfall, seit im letzten Jahr 20 Fans bei Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften in Kairo starben. In Alexandria ging die Polizei mit Tränengas gegen die Fans vor; 29 Personen wurden verletzt.

Der Vorfall fällt in eine Zeit wachsender Kritik an Sisi, der auch wegen der Überlassung von zwei ägyptischen Inseln im Roten Meer an Saudi-Arabien unter Beschuss steht. Sisi hatte diese dem saudischen König Salman bei dessen Besuch in Kairo Anfang des Monats zugestanden. Die Demonstranten waren nicht so zahlreich wie beim Sturz Mubaraks, aber sie griffen die Parolen der erfolgreichen Revolte von 2011 auf und riefen: "Brot, Freiheit – die Inseln sind ägyptisch!". 2011 hatte es geheißen: "Brot, Freiheit und Gerechtigkeit".

Dieser Vorfall und die Zunahme spontaner Proteste in den Stadteilen gegen die brutale Vorgehensweise der Sicherheitskräfte haben Sisi darin bestärkt, die Öffentlichkeit weiter aus den Stadien auszuschließen, da er befürchtet, diese könnten zum Sammelbecken der Opposition werden.

Die weitere Schließung von Stadien in Ägypten und die erfolglosen Versuche Erdoğans, den Fußball und dessen öffentliche Räume politisch zu kontrollieren, liefern den Sprengstoff für fortgesetzte Konfrontationen, indem Fans dazu ermutigt werden, sich auch bei anderen Anliegen an Protesten gegen die Regierung zu beteiligen.

"Während Reizgasschwaden herüberwehen, rufen Fans die legendäre Parole: Nehmt ab eure Helme, werft weg eure Schlagstöcke", twitterte ein Beşiktaş-Fan aus der Çarşı-Gruppe bei Auseinandersetzungen mit der Polizei letzten Monat vor dem neuen Stadion. Dies war eine sarkastische Einladung der Fans an die Polizei, unter gleichen Bedingungen zu kämpfen.

Doch auf diese Herausforderung werden sich die Sicherheitskräfte weder in der Türkei noch in Ägypten einlassen. Ausufernde Gewalt und Brutalität der herrschenden Regierungen haben sich allerdings als unwirksam bei dem Versuch erwiesen, Fans zu unterdrücken und ihnen die Kontrolle über die öffentlichen Räume zu entreißen.

James M. Dorsey

© MPC Journal 2016

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers