Die Rückkehr des alten repressiven Staates

Es gilt als sicher, dass Ägyptens Militärmachthaber Abdelfattah al-Sisi als Sieger aus den Wahlen am 26. und 27. Mai hervorgehen wird. Doch angesichts der gesellschaftlichen Spaltung und der gewaltigen Probleme des Landes bleibt es fraglich, ob er seine Machtposition langfristig aufrecht erhalten kann. Ein Essay von Atef Botros

Von Atef Botros

Die Muslimbruderschaft hat während ihrer kurzen Amtszeit alle Erwartungen enttäuscht. Die islamistische Regierung nutzte ihre Machtposition vor allem, um der ägyptischen Gesellschaft ihre ideologischen Vorstellungen aufzuzwingen. Dabei ignorierte sie die Forderungen der Revolution nach Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Sie beschränkte sich stattdessen auf demokratische Formalitäten.

Folglich erkannten viele Ägypter, dass die Muslimbrüder sowohl die Religion als auch die religiösen Gefühle der Menschen nur instrumentalisierten, um ihre politischen Ziele zu verwirklichen. Schließlich trafen sie mit der Führung des Militärs Abmachungen, die nur ihren eigenen Interessen dienten und festigten ihre Machtposition durch eine im Alleingang verabschiedete Verfassung. Die Muslimbruderschaft scheiterte somit nicht nur politisch, sondern zog auch den Zorn vieler Ägypter auf sich.

Auf diese Weise verlor die Muslimbruderschaft ihre moralische Legitimität und Popularität innerhalb der Bevölkerung, was schließlich auch die Basis für die Protestwelle vom 30. Juni 2012 bildete. Diese stellte eine beispiellose Massenmobilisierung dar, die eine breite Unterstützung durch die Bevölkerung erfuhr. Jedoch zeigten die bald darauf folgenden Inhaftierungen zahlreicher Führungspersonen der Organisation und der massive Gewalteinsatz gegen ihre Anhänger den undemokratischen Charakter des ägyptischen Militärs.

Dämonisierung der Opposition

Eine Eskalation der Gewalt nach der Absetzung Mursis erfolgte in Form vermehrter Terroranschläge auf den Sicherheitsapparat und staatliche Einrichtungen. Zudem wurden verstärkt Kopten und koptische Kirchen zur Zielscheibe von Übergriffen. Die neue Staatsmacht reagierte, indem sie die Muslimbruderschaft als "Terror–Organisation" deklarierte und gegen sie den "Krieg gegen den Terror" eröffnete.

Seitdem verwandelt sich die politische Öffentlichkeit des Landes allmählich in eine Propaganda-Maschine, deren Treibstoff der Hass gegen die Muslimbruderschaft ist. Darüber hinaus stellte die Verherrlichung der heroischen Rolle des Militärs und dessen Oberbefehlshaber Sisi, der zu einer neuen National-Ikone nach dem Vorbild Gamal Abdel Nassers stilisiert wurde, eine weitere Komponente der staatlichen Propaganda dar.

General Abdelfattah al-Sisi bei der Abstimmung für eine neue ägyptische Verfassung in Kairo; Foto: dpa/picture-alliance
Regentschaft mit eisernen Faust und auf Kosten der Zivilgesellschaft: "Abdelfattah al-Sisi sieht Ägypten der Demokratie noch nicht gewachsen. 'Vielleicht in 25 Jahren', sagte er einmal. Doch so lassen sich weder politisches Gleichgewicht noch nationale Versöhnung erreichen", schreibt Botros.

Der Armeeführung stilisierte sich auf dem Höhepunkt der Anti-Mursi-Bewegung als Retter und Erlöser der Nation. Die Mehrheit der Staatsinstitutionen und -medien schürten einerseits den Hass gegen die Muslimbruderschaft und unterstützten andererseits die Verherrlichung des Militärs und dessen Oberbefehlshaber. Auch religiöse Institutionen reproduzierten dieses Narrativ. So wurde beispielsweise Abdelfattah al-Sisi jüngst von einem Azhar-Gelehrten gar als Angehöriger innerhalb der Genealogie des Propheten verklärt.

Der sogenannte "Krieg gegen Terror" beschränkte sich jedoch nicht auf die Muslimbrüder. Vielmehr nahm er alle regimekritischen Stimmen ins Visier. Mittels massiver Propaganda dämonisierten die neuen Machthaber säkulare und liberale Oppositionelle, die Demokratie und Freiheit forderten, an den Zielen der Januar-Revolution 2011 festhielten und bis heute die Wiederherstellung des autoritären Staatswesens vehement ablehnen.

Dies diente dann als Rechtfertigung für ihre Verfolgung und Folterung. Büros von Menschenrechtsorganisationen wurden durchsucht und verwüstet, die Revolutionäre der ersten Stunde – wie die 6. April-Bewegung – sind mittlerweile verboten. Und schließlich wurden in einem beispiellosen Schnellverfahren in Minia Hunderte vermeintliche Anhänger der Muslimbrüder zum Tode verurteilt.

Nicht ohne Grund gelang es dem Regime, Zustimmung großer Teile der Zivilbevölkerung für sein rigides Vorgehen zu gewinnen. Denn im "Krieg gegen Terror" liegen die Prioritäten bekanntlich auf Sicherheit und Stabilität. Für Menschenrechte und Freiheit ist da kein Platz. Zu der staatlich gelenkten Propagandastrategie zählt auch die Umdeutung der Proteste vom 30. Juni 2013 als "wahre Revolution", wohingegen der Umbruch vom 25. Januar 2011, der den Sturz Mubaraks zur Folge hatte, als reine Verschwörung abgewertet wird, die von den Muslimbrüdern mit Hilfe feindlicher Staaten organisiert wurde.

Politik der eisernen Faust

Dieser neue Diskurs bedient sich massiv nationalistischer und patriotischer Begriffe, toleriert werden dabei weder Heterogenität noch Pluralität. Es ist ein Diskurs, der den drohenden Untergang durch den "Terror" der Muslimbruderschaft beschwört, der die internationale Staatengemeinschaft als Akteure im Hintergrund sieht, die sich die Zerstörung Ägyptens zum Ziel gesetzt haben. Und es ist ein Diskurs, der zur Tat gegen Angehörige und Sympathisanten der Muslimbruderschaft sowie gegen säkulare Regimekritiker ruft und eine Politik der eiserner Faust walten zu lassen. Das bloße Befürworten von Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit sowie die Ablehnung des Sicherheitsstaats reichen bereits aus, um als Feind der Nation denunziert zu werden.

Durch diese Propaganda ist es dem alten Sicherheitsapparat, bestehend aus Armee, Polizei und staatlicher Bürokratie, gelungen, die durch die Januar-Revolte verursachten Änderungen zu revidieren und seine ehemalige Legitimität wieder zu behaupten. Auch das Militär, das auf Demonstranten schoss, Revolutionäre verfolgte und Demonstrantinnen sogenannten "Jungfräulichkeitstests" unterzog, konnte sein Image nicht nur wiederherstellen, sondern etablierte sich zu einer unantastbaren Instanz zum Schutz der Bevölkerung vor Terrorismus und internationaler Verschwörung.

Dr. Atef Botros; Foto: privat
Dr. Atef Botros ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am "Centum für Nah- und Mitteloststudien" der Universität Marburg und Gründungsmitglied von "Mayadin al-Tahrir", ein Netzwerk für Bildung und nachhaltige Entwicklung in Ägypten.

Diese Entwicklungen stellen zwei Seiten derselben Medaille dar: Während die Muslimbruderschaft eine religiöse Rhetorik wählte und politisch instrumentalisierte, um ihre Ziele zu verwirklichen, missbrauchen die Militärmachthaber den Patriotismus, um ihre repressiven Maßnahmen zu legitimieren. Früher galten die Gegner des politischen Islams als "ungläubige Feinde der Religion". Heute werden die Widersacher des neuen Regimes als "Feinde der Nation und Verräter des Landes" geächtet. Die Verstrickung des Staates in diese Hetzkampagne ist eindeutig daran zu erkennen, dass regimenahe Medien illegal aufgezeichnete Privatgespräche veröffentlichen, um prominente Oppositionsfiguren zu diffamieren.

Die Restauration des repressiven Staates

Aufgrund des gewaltigen politischen Scheiterns der Muslimbrüder ist es dem Militärregime inzwischen gelungen, in der Öffentlichkeit eine Stimmung zu generieren, die sich von den ursprünglichen Werten, Inhalten und Zielen der Januar-Revolution von 2011 zunehmend distanziert. Während die Muslimbrüder Mursi im Zuge der Januar-Revolution in das Präsidentenamt beförderten, nutzte der Militärapparat die Aversion gegen die Muslimbruderschaft, um seinen Kandidaten auf den Weg zur Präsidentschaft zu bringen.

Die Unterstützung der Bevölkerung wurde indirekt bereits zwei Mal getestet. Das erste Mal, als Abdelfattah al-Sisi die Ägypter aufforderte, am 27. Juli auf die Straße zu gehen, um ihm ein Mandat für sein Vorgehen gegen die Anhänger Mursis zu erteilen. Das zweite Mal bei dem Verfassungsreferendum, bei dem die Beteiligung an der Wahl eine Unterstützung Sisis bedeutete.

Als dies erfolgreich verlief, gab der Geheimdienstoffizier, der das Land hinter den Kulissen bereits seit zehn Monaten regiert, Ende März schließlich seine Kandidatur für das Amt des Präsidenten bekannt.

Doch kann er keine politische Karriere vorweisen. Somit repräsentiert er nicht eine Partei oder seine eigene Person, sondern das ägyptische Militär, das aufgrund seines gigantischen Wirtschaftsimperiums und vollkommener Unabhängigkeit von kontrollierenden Instanzen die mächtigste Institution Ägyptens darstellt. Außerdem vertritt er weite Teile des ancien régime und dessen Seilschaften, zu dem auch der von Mubarak aufgebaute monströse Polizeiapparat gehört.

Ägyptens eigennütziger Retter der Nation

In einem Interview präsentierte sich General Sisi als jemand, der nicht an die Freiheit glaubt, weil sie angeblich nicht mit Sicherheit vereinbar sei. Natürlich rechtfertigt dieser erstaunliche Ausspruch nicht annähernd die gegenwärtigen Repressionen des ägyptischen Staates. Sicherheit und Stabilität sowie ein Ende des Terrors sind nur im Rahmen eines funktionierenden Rechtstaats denkbar. Ein Gegensatz zwischen dem Sicherheitsgrundsätzen und der von der neuen Verfassung garantierten Meinungsfreiheit existiert nicht.

Auch ist Sisis Haltung hinsichtlich des Rechts auf Demonstrationsfreiheit überaus bedenklich: Obwohl der Militärmachthaber ja in der Vergangenheit zu Massenprotesten aufgerufen hatte, um sich von der Masse politisch legitimieren zu lassen, diskreditiert er nun Protestler und Regimekritiker als Feinde der Nation. Denn seinem Verständnis nach erkennen Oppositionelle nicht das nationale Interesse, das anscheinend er allein zu definieren vermag.

Der saudische König Abdullah bin Abd al-Aziz; Foto: dpa
Strategische Partnerschaft mit dem absolutistischen Herrscherhaus in Riad: Abdelfattah al-Sisi bezeichnete den saudischen König Abdullah bin Abd al-Aziz als als den "größten und weisesten aller Araber".

Bezüglich der kritischen Rolle für die Zivilgesellschaft und die NGOs in Ägypten verlor der General bislang kein Wort. Dafür gab er jedoch seine recht schlichten Vorstellungen über die künftigen Gesellschaftsstrukturen in einem von ihm regierten Staat preis: Die Verhaltensmuster von Individuen sollen vereinheitlicht werden, so dass ein Kollektivverhalten der Masse entstünde, das der Staat als notwendige Grundlage für sein nationales Entwicklungsprojekt betrachte. Kompromisse und Definitionen des Allgemeininteresses, die in einem offenen politischen Raum durch Opposition und Parteien frei verhandelt werden, haben in seiner Vorstellung vom autoritären Staat offenbar keinen Platz.

Die Äußerungen des Generals rücken ihn in die Nähe der autoritärsten und erzkonservativsten Regime der Region. So beschreibt Sisi beispielsweise den saudischen König als den "größten und weisesten aller Araber". Und in einem kürzlich ausgestrahlten Fernsehinterview betonte Sisi ausdrücklich seine Rolle auch als alleiniger Wächter der Moral und der Religion in Ägypten. Diese Funktion möchte er künftig für sich alleine beanspruchen und nicht mehr traditionell die religiösen Gelehrten oder Organisationen.

Die Armee als Motor der Innovation

Mit der Unterstützung der Sicherheitsinstitutionen des Staates und im Namen der Sicherheit der Nation werde er alles in den Griff bekommen, versprach selbstbewusst der General. Doch damit nicht genug. Das Militär präsentiere sich auch als innovative und sogar wissenschaftliche Institution. Der Beweis: ein wundersames medizinisches Gerät, das vom Militär entwickelt worden sei, um angeblich Hepatitis C und HIV zu diagnostizieren und heilen zu können. Mit solchen aberwitzigen Verlautbarungen, gibt sich die Armee nicht nur im eigenen Land, sondern auch in den internationalen Medien der Lächerlichkeit preis.

Das Sisi-Projekt, das auf Feindschaft zur Muslimbruderschaft und dem von ihm erfundenen "Krieg gegen Terror" aufbaut, wird Ägypten weit vom Weg der Freiheit und Demokratie abbringen. Das Beispiel der Herrschaft der Muslimbrüder hat jedoch gezeigt, welches Schicksal auch das neue (alte) Militärregime ereilen könnte: Die Muslimbrüder scheiterten, weil sie keine Vermittlerrolle zwischen den Befürwortern des Sicherheitsstaats und dem demokratischen Lager einnehmen konnten. Es war ihnen daher nicht möglich, die großen politischen Kräfte zu integrieren. Stattdessen versuchten sie, ihre eigene Position auf Kosten anderer gesellschaftlicher Akteure und Gruppen auszuweiten, bis alle gegen sie waren.

Ähnliches könnte auch dem General zum Verhängnis werden. Er ist nicht in der Mitte, sondern tief im alten Sicherheitsstaat verwurzelt. Er sieht Ägypten der Demokratie noch nicht gewachsen."Vielleicht in 25 Jahren", sagte er einmal. Doch so lassen sich gewiss kein politisches Gleichgewicht und keine nationale Versöhnung herstellen. Wiederhergestellt wird lediglich das politische System, was im Ägypten vor der Revolution des 25. Januar existierte: der alte repressive Staat.

Atef Botros

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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de